Tiefe Wunden
Bericht.
»Vera Kaltensee könnte tatsächlich Vicky Endrikat sein«, meldete sich Kathrin Fachinger zu Wort. »Der alte Mann aus dem Taunusblick hat gesagt, dass Vera es weit gebracht hätte, für ein einfaches Mädchen aus Ostpreußen.«
»In welchem Zusammenhang hat er das gesagt?«, fragte Pia. Kathrin zog ihren Notizblock hervor und blätterte kurz.
»Die vier Musketiere«, las sie vor. »So haben sie sich genannt. Vera, Anita, Oskar und Hans, die vier alten Freunde von früher, die sich von Kindesbeinen an kannten. Sie haben sich zweimal im Jahr in Zürich getroffen, auch nachdem Anita und Vera ihre Männer unter die Erde gebracht hatten.«
Es war einen Moment ganz still. Bodenstein und Pia sahensich an. Die Puzzlestücke fielen von selbst an die richtigen Plätze.
»Ein einfaches Mädchen aus Ostpreußen«, sagte Bodenstein langsam. »Vera Kaltensee ist Vicky Endrikat. «
»Sie hat damals die Chance gesehen, quasi über Nacht in den Adelsstand aufzusteigen, nachdem ihr Prinz ihr zwar ein Kind gemacht, sie aber nicht geheiratet hatte«, ergänzte Pia. »Und sie ist damit durchgekommen. Bis heute.«
»Aber wer hat die drei umgebracht?«, fragte Ostermann ratlos. Bodenstein sprang auf und griff nach seinem Jackett.
»Frau Kirchhoff hat recht«, sagte er. »Elard Kaltensee muss herausgefunden haben, was damals passiert ist. Und er ist noch nicht am Ende mit seinem Rachefeldzug. Wir müssen ihn aufhalten.«
Die wirkungsvollen drei Worte »Gefahr im Verzug» veranlassten den zuständigen Richter, innerhalb einer halben Stunde drei Haftbefehle und Durchsuchungsbeschlüsse zu unterschreiben. Behnke hatte unterdessen mit einer völlig verzweifelten Marleen Ritter gesprochen. Sie hatte gestern gegen Viertel vor sechs von ihrem Büro aus mit ihrem Mann telefoniert und sich mit ihm für den Abend zum Essengehen verabredet. Als sie um halb acht nach Hause gekommen war, hatte sie ihre Wohnung durchwühlt und verwüstet vorgefunden, von Ritter keine Spur. Er war nicht ans Handy gegangen, und ab Mitternacht war es ausgeschaltet. Marleen Ritter hatte die Polizei verständigt, aber dort hatte man ihr gesagt, es sei zu früh für eine Vermisstenanzeige, ihr Gatte sei immerhin ein erwachsener Mann und erst seit sechs Stunden abgängig. Außerdem wusste Behnke zu berichten, dass vor der Abflughalle des Frankfurter Flughafens der Mercedes von Elard Kaltensee gefunden worden war. Beifahrersitz undInnenseite der Tür waren voller Blut, das vermutlich von Marcus Nowak stammte und gerade im Labor untersucht wurde.
Bodenstein und Pia fuhren auf den Mühlenhof, wieder verstärkt von Durchsuchungsbeamten sowie zusätzlich unterstützt von Kriminaltechnikern mit einem Bodenradargerät und Leichenspürhunden. Zu ihrer Überraschung trafen sie dort Siegbert und Jutta Kaltensee mitsamt ihrem Anwalt Dr. Rosenblatt an. Sie saßen umgeben von Aktenbergen am großen Tisch im Salon. Der Duft von frisch aufgebrühtem Tee hing in der Luft.
»Wo ist Ihre Mutter?«, fragte Bodenstein ohne Begrüßungsfloskeln.
Pia betrachtete unauffällig die Landtagsabgeordnete, die sich ebenso wenig wie Bodenstein anmerken ließ, was am Abend zuvor geschehen war. Sie wirkte nicht wie eine Frau, die es mit einem verheirateten Mann nachts auf dem Parkplatz trieb, aber man konnte sich in Menschen täuschen.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nicht ... «, begann Siegbert Kaltensee, aber Bodenstein fiel ihm scharf ins Wort.
»Ihre Mutter ist in höchster Gefahr. Wir gehen davon aus, dass Ihr Bruder Elard die Freunde Ihrer Mutter erschossen hat und nun auch sie töten will.«
Siegbert Kaltensee erstarrte.
»Außerdem haben wir einen Durchsuchungsbeschluss für das Haus und das Grundstück.« Pia reichte Kaltensee das Dokument, das dieser mechanisch an seinen Anwalt weitergab.
»Wieso wollen Sie das Haus durchsuchen?«, mischte sich der Anwalt ein.
»Wir suchen Marcus Nowak«, erwiderte Pia. »Er ist heute aus dem Krankenhaus verschwunden.«
Bodenstein und sie hatten sich darauf geeinigt, den Geschwistern Kaltensee vorerst noch nichts von dem Haftbefehl gegen ihre Mutter zu sagen.
»Warum soll Herr Nowak denn hier sein?« Jutta Kaltensee nahm dem Anwalt den Beschluss aus der Hand.
»Der Mercedes Ihres Bruders wurde am Flughafen gefunden«, erklärte Pia. »Er war voller Blut. Solange wir Marcus Nowak und Ihre Mutter nicht gefunden haben, müssen wir davon ausgehen, dass es ihr Blut sein könnte.«
»Wo sind Ihre Mutter und Ihr Bruder?«,
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