Tiefe Wunden
wiederholte Bodenstein. Als er keine Antwort bekam, wandte er sich an Siegbert Kaltensee.
»Ihr Schwiegersohn ist seit gestern Abend ebenfalls spurlos verschwunden.«
»Aber ich habe gar keinen Schwiegersohn«, antwortete Kaltensee verwirrt. »Sie müssen sich irren. Ich verstehe wirklich nicht, was das hier alles soll.«
Durchs Fenster beobachtete er die Polizeibeamten mit Hunden und dem Bodenradargerät, die in breiter Phalanx über die gepflegten Rasenflächen stapften.
»Sie wissen ja wohl, dass Ihre Tochter vor vierzehn Tagen Thomas Ritter geheiratet hat, weil sie ein Kind von ihm erwartet.«
»Wie bitte?« Siegbert Kaltensee wich das Blut aus dem Gesicht. Er stand da wie vom Donner gerührt und fand keine Worte. Sein Blick glitt zu seiner Schwester, die sich verblüfft gab.
»Ich muss telefonieren«, sagte er plötzlich und zückte sein Handy.
»Später«, Bodenstein nahm ihm das Gerät aus der Hand, »erst will ich wissen, wo Ihre Mutter und Ihr Bruder sind.«
»Mein Mandant hat das Recht zu telefonieren!«, protestierte der Anwalt. »Was Sie hier machen, ist Willkür!«
»Halten Sie die Klappe«, sagte Bodenstein scharf. »Also, wird’s bald?«
Siegbert Kaltensee zitterte am ganzen Leib, sein bleiches Mondgesicht glänzte vor Schweiß.
»Lassen Sie mich telefonieren«, bat er mit heiserer Stimme. »Bitte.«
Auf dem Mühlenhof war weder eine Spur von Marcus Nowak noch von Elard oder Vera Kaltensee zu finden. Bodenstein hatte nach wie vor den Verdacht, dass Elard Kaltensee Nowak getötet und die Leiche irgendwo versteckt hatte, wenn nicht hier, dann an einem anderen Ort. Thomas Ritter war bisher auch nicht wiederaufgetaucht. Bodenstein rief bei seiner Schwiegermutter an und erfuhr von ihr, wo die Kaltensees Häuser und Wohnungen besaßen.
»Am wahrscheinlichsten erscheinen mir die Häuser in Zürich und im Tessin«, sagte er zu Pia, als sie zurück zum Kommissariat fuhren. »Wir bitten die Schweizer Kollegen um Amtshilfe. Herrgott, ist das alles verfahren!«
Pia schwieg, denn sie wollte ihrem Chef nicht noch Salz in die Wunden streuen. Wenn er auf sie gehört hätte, wäre Elard Kaltensee längst in Untersuchungshaft und Nowak möglicherweise noch am Leben. Ihre Theorie der Ereignisse war folgende: Elard hatte die Kiste mit den Tagebüchern und der .08 an sich gebracht. Da er kein Mann von schnellen Entschlüssen war und vielleicht erst eine Weile gebraucht hatte, um die Bedeutung der Tagebücher zu erfassen, hatte er noch Monate gezögert, bevor er zur Tat geschritten war. Er hatte Goldberg, Schneider und Anita Frings mit der Waffe aus der Kiste erschossen, weil diese ihm nichts über die Vergangenheit hatten erzählen wollen. Der 16. Januar 1945 war der Tag der Flucht, der Tag, an dem etwas Einschneidendes passiert war, an das sich Elard Kaltensee womöglich dochdunkel erinnern konnte, weil er damals nicht zwei, sondern bereits drei Jahre alt gewesen war. Und Marcus Nowak, der von den drei Morden gewusst oder sogar dabei geholfen hatte, musste verschwinden, weil er Elard Kaltensee gefährlich werden konnte.
Ostermann rief an. Die Fingerabdrücke von Marcus Nowak und Elard Kaltensee auf der Tatwaffe waren für niemanden eine Überraschung. Außerdem hatte sich eine Dame aus Königstein gemeldet, die Nowaks Bild in der Zeitung gesehen hatte. Sie hatte den Restaurator als den Mann erkannt, der am späten Vormittag des 4. Mai auf dem Parkplatz am Luxemburgischen Schloss mit einem grauhaarigen Mann in einem BMW Cabrio gesprochen hatte.
»Nowak hat mit Ritter gesprochen, sich kurz zuvor aber mit Katharina Ehrmann getroffen. Wie passt denn das zusammen? «, dachte Bodenstein laut nach.
»Das frage ich mich auch«, erwiderte Pia. »Die Aussage der Frau bestätigt aber, dass Christina Nowak nicht gelogen hat. Ihr Mann war ungefähr zu der Zeit, als Watkowiak gestorben ist, in Königstein.«
»Also haben er und Elard Kaltensee womöglich nicht nur etwas mit den drei Morden an den Alten zu tun, sondern auch mit dem Tod von Watkowiak und Monika Krämer?«
»Ich würde inzwischen gar nichts mehr ausschließen«, sagte Pia und gähnte. Sie hatte in den letzten Tagen definitiv zu wenig Schlaf bekommen und sehnte sich nach einer ruhigen Nacht. Vorerst sah es aber nach dem genauen Gegenteil aus, denn Ostermann rief wieder an: Unten auf der Wache warte eine Auguste Nowak, die dringend mit Pia reden wolle.
»Hallo, Frau Nowak.« Pia reichte der alten Frau die Hand, die sich von dem Stuhl im
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