Tiefe Wunden
sowie die Munition aus dem Tresor in Nowaks Büro waren schon auf dem Weg in die Ballistik. Hasse und Fachinger hatten das Telefon übernommen, das nach den Aufrufen um Mithilfe aus der Bevölkerung im Radio beinahe unablässig klingelte. Bodenstein schickte Behnke nach Frankfurt zu Marleen Ritter. Eine Streife hatte gemeldet, dass Ritters BMW noch immer auf dem Parkplatz vor der Redaktion der Weekend stand.
»Pia! «, rief Kathrin Fachinger. »Telefon für dich! Ich stell’s in dein Büro!«
Pia nickte und stand auf.
»Ich war gestern bei diesem alten Mann«, verkündete Miriam ohne Begrüßung. »Schreib mit, was ich dir erzähle. Das ist der Hammer.«
Pia griff nach einem Block und einem Kuli. Ryszard Wielinski war mit einundzwanzig als Zwangsarbeiter auf das Gut der Familie Zeydlitz-Lauenburg gekommen. Sein Kurzzeitgedächtnis war nicht mehr das beste, aber er erinnerte sich messerscharf an die Ereignisse von vor fünfundsechzig Jahren. Vera von Zeydlitz war auf einem Internat in der Schweiz gewesen, ihr älterer Bruder Elard Pilot bei der Luftwaffe. Beide waren während des Krieges nur selten auf dem elterlichen Gut gewesen, aber Elard hatte eine Liebesbeziehung zu der hübschen Verwaltertochter Vicky, aus der im August 1942 ein Sohn hervorging. Elard hatte Vicky heiraten wollen, aber jedes Mal war er kurz vor dem geplanten Termin von der Gestapo verhaftet worden, zuletzt 1944. Vermutlich hatte ihnSS-Sturmbannführer Oskar Schwinderke, der Sohn des Zahlmeisters von Gut Lauenburg, denunziert, um die Hochzeit zu verhindern, denn Schwinderkes ehrgeizige jüngere Schwester Edda war ihrerseits heftig in den jungen Grafen verliebt und wahnsinnig eifersüchtig auf Vicky und deren enge Freundschaft mit Elards Schwester gewesen. Schwinderke war während des Krieges häufig auf dem Gut, weil er als Mitglied der Leibstandarte Adolf Hitler in der nahegelegenen Wolfsschanze Dienst getan hatte. Im November 1944 war Elard mit einer schweren Verletzung nach Hause gekommen. Und als am 1 5. Januar 1945 der offizielle Treckbefehl erging und die gesamte Dobener Bevölkerung am Morgen des 16. Januar 1945 Richtung Bartenstein aufbrach, waren auf dem Gut der alte Freiherr von Zeydlitz-Lauenburg, seine Frau, der verletzte Elard, seine Schwester Vera, Vicky Endrikat mit dem dreijährigen Heinrich, Vickys kranke Mutter, ihr Vater und ihre kleine Schwester Ida zurückgeblieben. Sie hatten so schnell wie möglich dem Treck folgen wollen. In der Nähe von Mauerwald war dem Treck ein Kübelwagen entgegengekommen. Am Steuer hatte SS-Sturmbannführer Oskar Schwinderke gesessen, neben ihm ein anderer SS-Mann, den Wielinski mehrfach auf Gut Lauenburg gesehen hatte, auf der Rückbank Edda und ihre Freundin Maria, die beide seit Anfang 1944 in einem Gefangenenlager für Frauen in Rastenburg gearbeitet hatten, die eine als Aufseherin, die andere als Sekretärin des Lagerleiters. Sie hatten kurz mit Zahlmeister Schwinderke gesprochen und waren dann weitergefahren. Wielinski hatte diese vier an jenem Tag zum letzten Mal gesehen. Am Abend des folgenden Tages hatte die russische Armee den Dobener Treck überrollt, alle Männer waren erschossen, die Frauen vergewaltigt und zum Teil verschleppt worden. Er selbst hatte nur überlebt, weil die Russen ihm geglaubt hatten, dass er polnischer Zwangsarbeiter war. Einige Jahre nach dem Kriegwar Wielinski in die Gegend zurückgekehrt. Er hatte oft über das Schicksal der Familien Zeydlitz-Lauenburg und Endrikat nachgedacht, denn man hatte ihn als Zwangsarbeiter sehr gut behandelt, und Vicky Endrikat hatte mit ihm regelmäßig Deutsch gelernt.
Pia bedankte sich bei Miriam und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. In der Vita von Vera Kaltensee hatte sie gelesen, dass ihre gesamte Familie seit 1945 als auf der Flucht gestorben oder vermisst galt. Wenn es stimmte, was der ehemalige Zwangsarbeiter erzählt hatte, dann hatten sie das Gut an jenem 16. Januar 1945 aber gar nicht verlassen! Was hatte Oskar Schwinderke – bei dem es sich zweifellos um den falschen Goldberg handelte – mit seiner Schwester und seinen Freunden dort noch getan, so kurz bevor die russische Armee einrückte? In den Geschehnissen jenes Tages lag der Schlüssel zu den Morden. War Vera in Wirklichkeit die Tochter des Gutsverwalters Endrikat und Elard Kaltensee demzufolge der Sohn des Piloten Elard? Pia ging mit ihren Notizen in den Besprechungsraum. Bodenstein rief auch Fachinger und Hasse dazu. Schweigend lauschten sie Pias
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