Tiefe Wunden
Art der Tätowierung selbst schon auf dem Tisch gehabt, einmal in Südamerika und mehrmals hier. Es gibt für mich keinen Zweifel.«
Es war halb sechs, als Pia die Haustür aufschloss und im Windfang die schmutzigen Schuhe auszog. Sie hatte im Rekordtempo Pferde und Hunde versorgt und beeilte sich, ins Bad zu kommen, um zu duschen und die Haare zu waschen. Im Gegensatz zu ihrem Chef war sie über Nierhoffs Anweisung,vorerst keine Ermittlungen im Fall Goldberg aufzunehmen, ganz und gar nicht böse. Sie hatte schon befürchtet, dass sie Christoph für heute Abend absagen müsste, und das wollte sie auf gar keinen Fall. Vor anderthalb Jahren hatte sie sich von Henning getrennt, vom Gewinn ihres Aktienpakets den Birkenhof in Unterliederbach gekauft und war wieder in ihren Beruf bei der Kriminalpolizei zurückgekehrt. Das Sahnehäubchen auf ihrem Glück war zweifellos Christoph Sander. Zehn Monate war es her, dass sie sich bei einem Mordfall im Kronberger Opel-Zoo kennengelernt hatten. Der Blick aus seinen dunkelbraunen Augen hatte sie wie ein Blitzschlag mitten ins Herz getroffen. Sie war so daran gewöhnt, für alles in ihrem Leben eine rationale Erklärung zu finden, dass sie von der Anziehungskraft, die dieser Mann vom ersten Augenblick an auf sie ausübte, zutiefst verwirrt war. Seit acht Monaten waren sie und Christoph ... ja, was waren sie? Ein Liebespaar? Befreundet? Zusammen? Er übernachtete häufig bei ihr, sie ging in seinem Haus ein und aus und verstand sich gut mit seinen drei erwachsenen Töchtern, aber eigentlich hatten sie bisher recht wenig Alltag miteinander erlebt. Ihn zu sehen, bei ihm zu sein und mit ihm zu schlafen war noch immer eine aufregende Sache.
Pia erwischte sich dabei, wie sie ihr Spiegelbild dämlich angrinste. Sie drehte die Dusche auf und wartete ungeduldig, bis der alte Boiler das Wasser auf eine annehmbare Temperatur gebracht hatte. Christoph war temperamentvoll und leidenschaftlich, bei allem, was er tat. Auch wenn er mitunter ungeduldig und aufbrausend sein konnte, wurde er dabei nie verletzend wie Henning, der ein wahrer Könner war, wenn es darum ging, in offenen Wunden herumzustochern. Nach sechzehn Jahren an der Seite eines introvertierten Genies wie Henning, dem es mühelos gelang, mehrere Tage lang kein Wort zu sagen, der keine Haustiere, keine Kinder und keinespontanen Einfälle mochte, war Pia von Christophs Unkompliziertheit immer wieder aufs Neue fasziniert. Seit sie ihn kannte, hatte sie ein ganz neues Selbstbewusstsein entwickelt. Er liebte sie, wie sie war, auch ungeschminkt und verschlafen, in Stallklamotten und Gummistiefeln, er störte sich weder an einem Pickel noch an ein paar Pfunden zu viel auf ihren Rippen. Und darüber hinaus hatte er wirklich bemerkenswerte Qualitäten als Liebhaber, die er in den fünfzehn Jahren seit dem Tod seiner Frau unglaublicherweise jeder anderen vorenthalten hatte. Pia bekam noch immer Herzklopfen, wenn sie sich an den Abend im menschenleeren Zoo erinnerte, als er ihr seine Zuneigung gestanden hatte.
Heute Abend würde sie das erste Mal ganz offiziell mit ihm ausgehen. Im Zoogesellschaftshaus in Frankfurt sollte ein Galaempfang stattfinden, dessen Einnahmen dem Neubau des Menschenaffenhauses zugutekommen würden. Schon die ganze Woche lang hatte Pia sich Gedanken darüber gemacht, was sie anziehen sollte. Die wenigen Kleider, denen der Sprung aus der Henning-Zeit in ihr neues Leben gelungen war, hatten Größe 38 und passten zu ihrem Schrecken nicht mehr richtig. Sie hatte keine Lust, den ganzen Abend den Bauch einzuziehen, voller Angst, dass bei der nächsten unbedachten Bewegung irgendeine Naht oder der Reißverschluss aufplatzen könnten. Deshalb hatte sie zwei Abende und einen Samstagvormittag im Main-Taunus-Zentrum und auf der Zeil in Frankfurt mit der Suche nach einem passenden Kleid verschwendet. Aber offenbar war man in den Geschäften nur noch auf magersüchtige Kundinnen eingestellt. Vergeblich hatte sie Ausschau nach einer Verkäuferin in ihrem Alter gehalten, die Verständnis für ihre Problemzonen haben mochte, aber Fehlanzeige: Sämtliche Mitarbeiterinnen waren knapp der Minderjährigkeit entwachsene exotische Schönheiten mit Kleidergröße XXS, die ihre Versuche, sich in derengen Umkleidekabine schwitzend in diverse Abendkleider zu zwängen, mit Gleichgültigkeit oder gar Mitleid betrachteten. Bei H&M hatte sie etwas gefunden, nur um peinlich berührt festzustellen, dass sie sich in der Umstandsmodenabteilung
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