Tiefe Wunden
verzitterte, unsichere Buchstaben. Neugierig blätterte Bodenstein zur letzten Woche, in der sich zu jedem Tag Notizen fanden, die ihm aber nicht weiterhalfen, wie er enttäuscht feststellte: ausnahmslos Namen, die fast alle auch noch abgekürzt waren. Lediglich am heutigen Tag war ein Name ganz ausgeschrieben. Vera 85 , stand da. Bodenstein trug den Terminkalender trotz der mageren Ergebnisse zum Kopierer im Sekretariat des Instituts und begann, sämtliche Seiten seit Januar zu kopieren. Just als er bei der letzten Woche im Leben Goldbergs angelangt war, summte sein Handy.
»Chef«, Pia Kirchhoffs Stimme klang ein wenig verzerrt, weil der Empfang im Keller des Instituts nicht optimal war, »Sie müssen mal herkommen. Henning hat hier etwas Eigenartiges entdeckt.«
»Ich habe dafür keine Erklärung. Absolut nicht. Aber es ist eindeutig. Vollkommen eindeutig«, sagte Dr. Henning Kirchhoff kopfschüttelnd, als Bodenstein den Sektionsraum betrat. Seine professionelle Gelassenheit und aller Zynismus waren ihm abhandengekommen. Auch sein Assistent und Pia wirkten ratlos, der Staatsanwalt kaute aufgeregt an seiner Unterlippe.
»Was haben Sie denn gefunden?«, fragte Bodenstein.
»Etwas Unglaubliches.« Kirchhoff bedeutete ihm, näher an den Tisch zu treten, und reichte ihm eine Lupe. »Mir ist etwas an der Innenseite seines linken Oberarms aufgefallen, eine Tätowierung. Ich konnte es schlecht erkennen, wegen der Leichenflecke am Arm. Er hatte mit der linken Seite auf dem Boden gelegen.«
»Jeder, der in Auschwitz war, hatte doch eine Tätowierung«, erwiderte Bodenstein.
»Aber nicht so eine.« Kirchhoff deutete auf den Arm desToten. Bodenstein kniff ein Auge zu und betrachtete die bezeichnete Stelle durch das Vergrößerungsglas.
»Sieht aus wie ... hm ... wie zwei Buchstaben. Frakturschrift. Ein ... A und ein B, wenn ich mich nicht täusche«
»Sie täuschen sich nicht«, Kirchhoff nahm ihm die Lupe aus der Hand.
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Bodenstein wissen.
»Ich gebe meinen Beruf auf, falls ich mich irren sollte«, er widerte Kirchhoff. »Es ist unglaublich, schließlich war Goldberg Jude.«
Bodenstein begriff nicht, was den Rechtsmediziner so auf regte.
»Jetzt spannen Sie mich nicht auf die Folter«, sagte er ungeduldig. »Was ist denn so außergewöhnlich an einer Tätowierung?«
Kirchhoff blickte Bodenstein über den Rand seiner Halbbrille an.
»Das«, er senkte seine Stimme zu einem konspirativen Flüstern, »ist eine Blutgruppentätowierung, wie sie die Mitglieder der Waffen-SS hatten. Zwanzig Zentimeter über dem Ellbogen auf der Unterseite des linken Oberarms. Weil diese Tätowierung ein eindeutiges Erkennungszeichen war, haben nach dem Krieg viele ehemalige SS-Leute versucht, sie loszuwerden. Dieser Mann hier auch.«
Er holte tief Luft und begann, den Sektionstisch zu umrunden.
»Üblicherweise«, dozierte Kirchhoff wie bei einer Erstsemestervorlesung im Hörsaal, »werden Tätowierungen durch Stechen mit einer Nadel in die mittlere Hautschicht, die sogenannte Dermis, eingebracht. In unserem Fall hier ist die Farbe aber bis in die Subcutis eingedrungen. Oberflächlich war nur noch eine bläuliche Narbe zu erkennen, aber jetzt, nach der Entfernung der obersten Hautschichten,ist die Tätowierung wieder deutlich zu sehen. Blutgruppe AB.«
Bodenstein starrte die Leiche Goldbergs an, die im grellen Licht mit geöffnetem Brustkorb auf dem Sektionstisch lag. Er wagte kaum, daran zu denken, was Kirchhoffs unglaubliche Enthüllung bedeuten und was sie nach sich ziehen konnte.
»Wenn Sie nicht wüssten, um wen es sich hier auf Ihrem Tisch handelt«, sagte er langsam, »was würden Sie vermuten?«
Kirchhoff blieb abrupt stehen.
»Dass der Mann in jüngeren Jahren ein Mitglied der SS gewesen ist. Und zwar ziemlich von Anfang an. Später wurden die Tätowierungen in lateinischer Schrift vorgenommen, nicht in altdeutscher.«
»Kann es sich nicht um eine andere harmlose Tätowierung handeln, die sich im Laufe der Jahre irgendwie ... hm ... verändert hat?«, fragte Bodenstein, obwohl er in dieser Hinsicht keine Hoffnung hegte. Kirchhoff irrte sich so gut wie nie, zumindest konnte Bodenstein sich an keinen Fall erinnern, bei dem der Rechtsmediziner sein Urteil hätte revidieren müssen.
»Nein. Schon gar nicht an dieser Stelle.« Kirchhoff war durch Bodensteins Skepsis nicht gekränkt. Er war sich der Tragweite seiner Entdeckung ebenso bewusst wie jeder der Anwesenden. »Ich habe diese
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