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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Lächeln und schwang die Beine über die Bettkante. Beachtliche zweiundneunzig Lenze hatte er auf dem Buckel gehabt, der alte Scheißkerl. Man konnte nicht gerade behaupten, dass er mitten aus dem Leben gerissen worden war. Elard wankte ins Bad, zog sich aus und trat vor den Spiegel. Er betrachtete kritisch sein Spiegelbild. Auch mit dreiundsechzig Jahren war er noch ziemlich gut in Form. Kein Bauchansatz, keine Speckrollen, kein schlabberiger Truthahnhals. Er ließ die Badewanne volllaufen, gab eine Handvoll Badesalz hinein und ließ sich mit einem Seufzer in das duftende warme Wasser gleiten. Goldbergs Tod erschütterte ihn nicht, eigentlich war er sogar ganz froh, dass die Feier dadurch ein frühes Ende gefunden hatte. Er hatte sofort der Bitte seiner Mutter entsprochen, sie nach Hause zu fahren. Da Siegbert und Jutta nur Sekunden später auf dem Mühlenhof eingetroffen waren, hatte er die Gelegenheit genutzt, sich diskret zurückzuziehen. Er brauchte dringend Ruhe, um endlich über die Geschehnisse der letzten Tage nachzudenken.
    Elard Kaltensee schloss die Augen und spulte seine Gedanken zurück zum vergangenen Abend, betrachtete mit klopfendem Herzen die ebenso aufwühlende wie beängstigende Sequenz vor seinem inneren Auge wie den Ausschnitt eines Videofilms. Immer und immer wieder. Wie hatte es nur so weit kommen können? Sein ganzes Leben lang hatte er sich mit irgendwelchen Schwierigkeiten privater und beruflicher Natur herumschlagen müssen, aber dies hier drohte ihn ernsthaft aus der Bahn zu werfen. Es bestürzte ihn, weil er einfach nicht begriff, was in ihm vorging. Ihm entglitt die Kontrolle, und es gab niemandem, mit dem er über sein Dilemma sprechen konnte. Wie sollte er mit diesem Geheimnis leben können? Was würden seine Mutter, seine Söhne, seine Schwiegertöchter dazu sagen, sollte es eines Tages herauskommen?Die Tür wurde aufgerissen. Elard fuhr erschrocken hoch und bedeckte seine Blöße mit beiden Händen.
    »Herrgott, Mutter«, sagte er ärgerlich. »Kannst du nicht anklopfen?«
    Erst dann bemerkte er Veras verstörten Gesichtsausdruck.
    »Jossi ist nicht einfach gestorben«, stieß sie hervor und ließ sich auf die Bank neben der Badewanne sinken. »Er wurde erschossen !«
    »Ach je. Das tut mir leid.« Zu mehr als zu dieser lahmen Floskel konnte sich Elard nicht durchringen. Vera starrte ihn einen Augenblick an.
    »Wie herzlos du bist«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Dann verbarg sie das Gesicht in den Händen und begann, leise zu schluchzen.
     
    »Komm, auf unser Wiedersehen müssen wir anstoßen!« Miriam zog Pia mit sich Richtung Bar und bestellte zwei Gläser Champagner.
    »Seit wann bist du wieder in Frankfurt?«, fragte Pia. »Das Letzte, was ich von dir gehört habe war, dass du in Warschau lebst. Deine Mutter hat es mir vor ein paar Jahren erzählt, als ich sie zufällig getroffen habe.«
    »Paris – Oxford – Warschau – Washington – Tel Aviv – Berlin – Frankfurt«, zählte Miriam im Telegrammstil auf und lachte. »In jeder Stadt habe ich die Liebe meines Lebens getroffen und wieder verlassen. Irgendwie eigne ich mich nicht für eine feste Beziehung. Aber erzähl von dir! Was tust du so? Beruf, Mann, Kinder?«
    »Ich bin nach drei Semestern Jura zur Polizei gegangen«, sagte Pia.
    »Quatsch!« Miriam riss die Augen auf. »Wie das denn?« Pia zögerte. Es fiel ihr noch immer schwer, darüber zu reden, auch wenn Christoph meinte, dass es die einzigeMöglichkeit sei, ihr Trauma zu verarbeiten. Beinahe zwanzig Jahre lang hatte sie mit niemandem über dieses schlimmste Erlebnis ihres Lebens gesprochen, nicht einmal mit Henning. Sie wollte nicht immer wieder an ihre Schwäche und die Angst erinnert werden. Miriam besaß allerdings mehr Einfühlungsvermögen, als Pia angenommen hatte, und wurde sofort ernst. »Was ist passiert?«
    »Es war im Sommer nach dem Abi«, erwiderte Pia. »Ich habe in Frankreich einen Mann kennengelernt. Er war nett, ein Urlaubsflirt. Wir hatten Spaß. Nach dem Urlaub war die Sache für mich vorbei. Für ihn aber leider nicht. Er verfolgte mich, terrorisierte mich mit Briefen und Anrufen, er lauerte mir überall auf. Und dann brach er in meine Wohnung ein und vergewaltigte mich.«
    Sie ließ es gleichmütig klingen, aber Miriam schien zu spüren, welche Kraft es Pia kostete, so ruhig und scheinbar unbeteiligt darüber zu sprechen.
    »O mein Gott«, sagte sie leise und ergriff Pias Hand. »Das ist ja entsetzlich.«
    »Ja, das war es.« Pia

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