Tiefe Wunden
befand. Schließlich hatte sie die Nase voll gehabt, sich in dem Bewusstsein, dass Christoph sie so mochte, wie sie war, für ein schlichtes schwarzes Shift-Kleid in Größe 42 entschieden und sich als Belohnung für schweißtreibende Anproben ein Extra-Menü bei McDonald’s gegönnt. Inklusive einem McFlurry mit Smarties als Nachtisch.
Als Bodenstein am Abend nach Hause kam, war seine Familie ausgeflogen, nur der Hund bereitete ihm einen stürmischen Empfang. Hatte Cosima ihm gesagt, dass sie weggehen würde? Auf dem Küchentisch fand er eine Nachricht. Besprechung wegen Neuguinea im Merlin, habe Sophia mitgenommen. Bis später. Bodenstein seufzte. Cosima hatte im vergangenen Jahr wegen ihrer Schwangerschaft eine lang geplante Filmexpedition in die Urwälder Neuguineas ausfallen lassen müssen. Er hatte heimlich gehofft, dass sie nach Sophias Geburt die abenteuerlichen Reisen aufgeben würde, aber offenbar hatte er sich getäuscht. Im Kühlschrank fand er Käse und eine angebrochene Flasche 96er Château La Tour Blanche. Er machte sich ein Käsebrot, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und ging – gefolgt von seinem ewig hungrigen Hund – ins Arbeitszimmer. Zwar hätte Ostermann wahrscheinlich zehnmal schneller dem Internet die gewünschten Informationen entlockt als er, aber er würde sich an Nierhoffs Anweisung halten und keine Mitarbeiter mit Nachforschungen zur Person von David Goldberg beauftragen. Bodenstein klappte sein Laptop auf, legte eine CD der argentinisch-französischen Cellistin Sol Gabetta ein und nippte an dem Wein, der noch ein bisschen zu kalt war. Während er den Klängenvon Tschaikowsky und Chopin lauschte, klickte er sich durch Dutzende von Webseiten, durchforstete Zeitungsarchive und notierte sich alles Wissenswerte über den Mann, den man gestern Nacht erschossen hatte.
David Goldberg war 1915 in Angerburg im ehemaligen Ostpreußen als Sohn des Kolonialwarenhändlers Samuel Goldberg und dessen Frau Rebecca geboren, er hatte 1935 Abitur gemacht, danach verlor sich seine Spur bis zum Jahr 1947. In einer Kurzbiographie wurde erwähnt, dass er nach der Befreiung von Auschwitz 1945 über Schweden und England nach Amerika emigriert war. In New York hatte er Sarah Weinstein geheiratet, die Tochter eines angesehenen deutschstämmigen Bankiers. Goldberg war jedoch nicht ins Bankgeschäft eingestiegen, sondern hatte beim amerikanischen Rüstungsriesen Lockheed Martin Karriere gemacht. 1959 war er bereits Direktor der strategischen Planungsabteilung geworden. Als Vorstandsmitglied der mächtigen National Rifle Association hatte er zu den wichtigsten Waffenlobbyisten in Washington gehört, und mehrere Präsidenten hatten ihn als Berater hoch geschätzt. Trotz aller Grausamkeiten, die seiner Familie im Dritten Reich widerfahren waren, hatte er sich Deutschland immer stark verbunden gefühlt und zahlreiche enge Kontakte, besonders nach Frankfurt, gepflegt.
Bodenstein seufzte und lehnte sich zurück. Wer konnte wohl einen Grund haben, einen Zweiundneunzigjährigen zu erschießen?
Einen Raubmord schloss er aus. Der Haushälterin war nicht aufgefallen, dass etwas fehlte, wobei Goldberg ohnehin keine wirklich wertvollen Dinge in seinem Haus aufbewahrt hatte. Die Überwachungsanlage des Hauses war außer Betrieb, und der im Telefon integrierte Anrufbeantworter schien nie benutzt worden zu sein.
*
Im Zoogesellschaftshaus hatte sich die übliche Frankfurter Mischung aus altem Geldadel und schrillen Neureichen eingefunden, pressewirksam garniert mit Prominenz aus Fernsehen, Sport und Halbwelt, die großzügig dazu beitrugen, dass die Menschenaffen ein neues Dach über dem Kopf bekommen würden. Der Edelcaterer hatte dafür gesorgt, dass den verwöhnten Gaumen seiner Gäste nichts fehlte, der Champagner floss in Strömen. Pia schob sich an Christophs Arm durch die Menge. In ihrem kleinen Schwarzen fühlte sie sich einigermaßen wohl. Außerdem hatte sie in einer der zahlreichen unausgepackten Umzugskisten ein Glätteisen gefunden und damit ihre widerspenstigen Haare in eine richtige Frisur verwandelt sowie eine geschlagene halbe Stunde für ein Make-up gebraucht, das so wirkte, als sei sie kaum geschminkt. Christoph, der sie nur mit Jeans und Pferdeschwanz kannte, war unübersehbar tief beeindruckt gewesen.
»Mein Gott«, hatte er gesagt, als sie ihm die Haustür geöffnet hatte. »Wer sind Sie? Und was tun Sie in Pias Haus?«
Dann hatte er sie in die Arme genommen und lange und zärtlich
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