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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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geküsst – allerdings mit der gebotenen Vorsicht, um nichts zu zerstören. Als alleinerziehender Vater dreier Töchter im jungen Erwachsenenalter war er bestens geschult, was den Umgang mit weiblichen Wesen betraf, und machte nur erstaunlich selten Fehler. Er wusste zum Beispiel ganz genau, welch katastrophale Auswirkungen eine einzige unbedachte Bemerkung in Bezug auf Figur, Frisur oder Kleidung haben konnte, und hielt sich wohlweislich damit zurück. Aber seine Komplimente am heutigen Abend waren keine Taktik, sondern ehrlich gemeint. Pia fühlte sich unter seinen anerkennenden Blicken attraktiver als jede dünne Zwanzigjährige.
    »Ich kenne hier kaum jemanden«, raunte Christoph ihr zu. »Wer sind diese ganzen Leute? Was haben sie mit dem Zoo zu tun?«
    »Das ist die feine Frankfurter Gesellschaft und die, die meinen, dazugehören zu müssen«, erklärte Pia ihm. »Auf jeden Fall werden sie eine Menge Geld hierlassen, und das ist ja wohl Sinn und Zweck der ganzen Veranstaltung. Da drüben an dem Tisch in der Ecke stehen übrigens welche von den wirklich Reichen und Mächtigen hier in der Stadt.«
    Wie auf ein Stichwort reckte ausgerechnet eine der Damen an jenem Tisch in diesem Moment den Hals und winkte Pia zu. Sie mochte um die vierzig sein und hatte ein Figürchen, mit dem sie wahrscheinlich in jedem Geschäft der Stadt mühelos ein passendes Abendkleid fand. Pia lächelte höflich und winkte zurück, erst dann sah sie genauer hin.
    »Ich bin beeindruckt.« Christoph grinste amüsiert. »Die Reichen und Mächtigen kennen dich. Wer ist das?«
    »Das glaube ich ja nicht.« Pia ließ Christophs Arm los. Die zierliche, dunkelhaarige Frau drängte sich durch die Umstehenden und blieb vor ihnen stehen.
    »Püppi! «, rief sie laut, breitete die Arme aus und grinste.
    »Frosch! Ich fasse es nicht! Was machst du in Frankfurt?«, fragte Pia verblüfft, dann umarmte sie die Frau herzlich. Miriam Horowitz war vor vielen Jahren Pias allerbeste Freundin gewesen. Gemeinsam hatten sie wilde und lustige Zeiten erlebt, sich aber dann aus den Augen verloren, als Pia die Schule gewechselt hatte.
    »Frosch hat mich schon lange keiner mehr genannt«, lachte die Frau. »Mensch, das ist ja echt eine Überraschung!«
    Die beiden Frauen musterten sich neugierig und erfreut, und Pia stellte fest, dass sich ihre ehemals beste Freundin – abgesehen von ein paar Fältchen hier und da – kaum verändert hatte.
    »Christoph, das ist Miriam, früher meine allerallerbeste Freundin.« Pia erinnerte sich an ihre gute Erziehung. »Miri, das ist Christoph Sander.«
    »Sehr erfreut.« Miriam reichte ihm die Hand und lächelte. Sie unterhielten sich eine Weile, dann ließ Christoph die bei den erst mal allein und gesellte sich zu einigen Kollegen.
     
    Als Elard Kaltensee aufwachte, fühlte er sich wie gerädert und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, wo er war. Er hasste es, am Nachmittag einzuschlafen, das brachte seinen Biorhythmus durcheinander, und doch war es seine einzige Möglichkeit, den Schlaf nachzuholen, der ihm fehlte. Seine Kehle schmerzte, und er hatte einen widerlichen Geschmack im Mund. Über Jahre hinweg hatte er kaum geträumt, und wenn, dann konnte er sich nicht daran erinnern. Aber vor einer Weile hatten sich abscheuliche, beklemmende Alpträume eingestellt, denen er nur mit der Einnahme von Tabletten entgehen konnte. Seine Tagesdosis Tavor lag mittlerweile bei 2 Milligramm, und vergaß er sie auch nur einmal, dann suchten sie ihn heim – verschwommene, unerklärliche Erinnerungen an Angst, an Stimmen und schauriges Gelächter, die ihn schweißgebadet und mit Herzrasen aufwachen ließen und mitunter den ganzen folgenden Tag überschatteten. Elard setzte sich benommen auf und massierte seine Schläfen, hinter denen ein dumpfer Schmerz pochte. Vielleicht würde jetzt alles besser werden, wenn er endlich wieder zur Tagesordnung übergehen konnte. Er war heilfroh, dass mit der Feier im Familienkreis die allerletzte der zahllosen offiziellen, halboffiziellen und privaten Festivitäten zu Ehren des 85. Geburtstages seiner Mutter überstanden waren. Der Rest der Familie hatte wie selbstverständlich von ihm erwartet, dass er sich um alles kümmerte, nur weil er auf dem Mühlenhof lebte und in ihren Augen sonst nichts zu tun hatte. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, was geschehen war. Die Nachricht von Goldbergs Tod hatte die Feier auf Schloss Bodenstein abrupt beendet.
    Elard Kaltensee verzog das Gesicht zu einem bitteren

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