Tiefe Wunden
Spießer! Robert, der Versager. Schon wieder der Führerschein weg wegen der Sauferei. Zum dritten Mal? Nein, schon das vierte Mal! Jetzt geht er wohl wieder ins Gefängnis. Geschieht ihm nur recht. Hat doch alle Chancen gehabt, der Junge, und nichts draus gemacht. Robert schloss seine Hand fest um das Glas und beobachtete, wie seine Fingerknöchel weiß hervortraten. So würden seine Hände aussehen, wenn er sie um ihren faltigen Hühnerhals legte und zudrückte, bis ihr die Augen aus dem Kopf quollen.
Er nahm einen tiefen Schluck. Der erste war immer der beste. Die kalte Flüssigkeit rann durch seine Speiseröhre, und er stellte sich vor, wie sie zischend über diesen glühenden, brennenden Klumpen von Eifersucht und Verbitterung in seinem Inneren floss. Wer behauptete eigentlich, dass Hasskalt war? Viertel vor vier. Verdammt, er musste aufs Klo. Er fingerte eine Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an. Kurti würde schon irgendwann auftauchen. Er hatte es ihm versprochen, gestern Abend. Wenigstens hatte er ihm die Schulden zurückzahlen können, nachdem er Onkel Jossi ein bisschen unter Druck gesetzt hatte. Immerhin war er sein Patenonkel, für irgendetwas musste das ja gut sein.
»Noch eins?«, fragte die Bedienung geschäftsmäßig. Er nickte und blickte in den Spiegel, der hinter dem Tresen an der Wand hing. Der Anblick seines vernachlässigten Äußeren, die fettigen Haare, die ihm auf die Schultern fielen, die glasigen Augen und die Bartstoppeln machten ihn sofort wieder wütend. Und seit dieser Schlägerei mit den Scheißtypen am Höchster Bahnhof fehlte ihm auch noch ein Zahn. Das sah ja total asozial aus! Das nächste Bier kam. Das sechste heute. Allmählich erreichte er Betriebstemperatur. Sollte er Kurti dazu überreden, ihn rüber zu Schloss Bodenstein zu fahren? Bei der Vorstellung, wie sie alle glotzen würden, wenn er lässig reingehen, sich auf den Tisch stellen und in aller Ruhe seine Blase entleeren würde, musste er grinsen. Das hatte er mal in einem Film gesehen, und es hatte ihm gefallen.
»Kannste mir mal dein Handy leihen?«, fragte er die Bedienung und merkte, dass es ihm schwerfiel, deutlich zu sprechen.
»Du hast doch selber eins«, erwiderte sie schnippisch und zapfte ein Bier, ohne ihn anzusehen. Er hatte leider keins mehr. Pech aber auch. Irgendwo musste es ihm aus der Jacke gerutscht sein.
»Hab’s verloren«, nuschelte er. »Stell dich nicht so an. Los.«
»Nee. « Sie wandte sich einfach ab und wackelte mit einem vollen Tablett zu den Prolls an der Dartscheibe. Im Spiegel sah er, wie die Tür aufging. Kurti. Na endlich.
»Hey, Alter.« Kurti schlug ihm auf die Schulter und setzte sich auf den Barhocker neben ihm.
»Bestell dir was, ich lad dich ein«, sagte Robert großzügig. Die Kohle von Onkel Jossi würde für ein paar Tage reichen, dann musste er sich nach einer neuen Geldquelle umsehen, und er hatte schon eine gute Idee. Er hatte den lieben Onkel Herrmann schon lange nicht mehr besucht. Vielleicht sollte er Kurti in seine Pläne einweihen. Robert verzog das Gesicht zu einem boshaften Lächeln. Er würde sich schon holen, was ihm zustand.
Bodenstein untersuchte im Büro von Henning Kirchhoff den Inhalt des Kartons, den Pia aus dem Hause Goldberg mit ins Rechtsmedizinische Institut gebracht hatte. Die beiden benutzten Gläser und die Weinflasche waren schon auf dem Weg ins Labor, ebenso der Spiegel, sämtliche Fingerabdrücke und alles, was die Spurensicherung sonst sichergestellt hatte. Unten, im Keller des Instituts, nahm währenddessen Dr. Kirchhoff in Anwesenheit von Pia und einem blutjungen Staatsanwalt, der wie ein Jurastudent im dritten Semester aussah, die Obduktion der Leiche von David Josua Goldberg vor. Bodenstein überflog einige Dankesbriefe von verschiedenen Institutionen und Personen, die Goldberg gefördert und finanziell unterstützt hatte, betrachtete flüchtig einige Fotos in silbernen Rahmen, blätterte ausgeschnittene Zeitungsartikel durch, die sorgfältig gelocht und penibel abgeheftet waren. Eine Taxiquittung vom Januar, ein abgegriffenes Büchlein in hebräischer Schrift. Nicht besonders viel. Offenbar hatte Jossi Goldberg den größten Teil seiner persönlichen Habe woanders aufgehoben. Unter all den Dingen, die für ihren ursprünglichen Besitzer eine Bedeutung gehabt haben mochten, war für Bodenstein nur ein Terminkalender von Interesse. Goldberg hatte eine für sein hohes Alter erstaunlichklare Handschrift besessen, ohne
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