Tiefe Wunden
der hier nach den Überresten der erschossenen Menschen suchen wird«, sagte Pia. »Man kann auch nach sechzig Jahren noch DNA-Probennehmen und die Personen identifizieren. Wir können Vera Kaltensee in Deutschland wegen mehrfachen Mordes vor Gericht bringen. Die Wahrheit wird auf jeden Fall herauskommen.«
Kaltensee wandte nicht den Blick von Vera.
»Gehen Sie, Frau Kirchhoff. Das hier ist nicht Ihre Sache.«
Plötzlich löste sich aus dem Schatten der Mauer eine kräftige kleine Gestalt. Pia zuckte erschrocken zusammen, sie hatte nicht bemerkt, dass noch jemand im Raum war. Erstaunt erkannte sie Auguste Nowak.
»Frau Nowak! Was tun Sie denn hier?«
»Elard hat recht«, sagte diese anstelle einer Antwort. »Es geht Sie nichts an. Diese Frau hat meinem Jungen tiefe Wunden zugefügt, die sechzig Jahre lang nicht heilen konnten. Sie hat ihm sein Leben gestohlen. Es ist sein gutes Recht, von ihr zu erfahren, was sich hier abgespielt hat.«
»Wir haben die Geschichte gehört, die Sie Thomas Ritter erzählt haben«, sagte Pia mit gedämpfter Stimme. »Und wir glauben Ihnen. Trotzdem muss ich Sie jetzt festnehmen. Sie haben drei Menschen erschossen, und ohne Beweise für Ihre Beweggründe werden Sie wohl im Gefängnis sterben müssen. Selbst wenn Ihnen das egal ist, dann halten Sie wenigstens Ihren Sohn von der Dummheit ab, jetzt einen Mord zu begehen! Das ist diese Person doch gar nicht wert!«
Auguste Nowak blickte nachdenklich auf die Waffe in Elards Händen.
»Übrigens haben wir Ihren Enkelsohn gefunden«, sagte Pia. »Wohl gerade noch rechtzeitig. Ein paar Stunden später, dann wäre er innerlich verblutet.«
Elard Kaltensee hob den Kopf und sah sie mit flackerndem Blick an.
»Wieso verblutet?«, fragte er rau.
»Er hatte bei dem Überfall innere Verletzungen davon getragen«, erwiderte Pia. »Dadurch, dass Sie ihn in diesen Keller geschleppt haben, ist er in Lebensgefahr geraten. Warum haben Sie das getan? Wollten Sie, dass er stirbt?«
Elard Kaltensee ließ unvermittelt die Pistole sinken, sein Blick glitt zu Auguste Nowak, dann zu Pia. Er schüttelte heftig den Kopf.
»Mein Gott, nein!«, stieß er betroffen hervor. »Ich wollte Marcus in Sicherheit wissen, bis ich wieder zurückkomme. Ich würde doch niemals etwas tun, was ihm schaden könnte!«
Seine Bestürzung erstaunte Pia, dann erinnerte sie sich an die Begegnung mit Kaltensee im Krankenhaus und glaubte zu verstehen.
»Sie und Nowak kennen sich nicht nur flüchtig«, sagte sie. Elard Kaltensee schüttelte den Kopf.
»Nein«, gab er zu. »Wir sind sehr gut befreundet. Eigentlich ... sogar sehr viel mehr als das ...«
»Stimmt«, Pia nickte. »Sie sind verwandt. Marcus Nowak ist Ihr Neffe, wenn mich nicht alles täuscht.«
Elard Kaltensee drückte ihr die Pistole in die Hand und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Im Licht des Scheinwerfers war zu erkennen, dass er totenbleich geworden war.
»Ich muss sofort zu ihm«, murmelte er. »Das habe ich nicht gewollt, wirklich nicht. Ich wollte doch nur, dass ihm niemand etwas tut, bis ich wieder zurück bin. Ich ... ich konnte doch nicht ahnen, dass er ... Großer Gott! Er wird doch wieder gesund?«
Er blickte auf. Seine Rache schien ihm mit einem Mal völlig egal zu sein, in seinen Augen stand nackte Angst. Und da begriff Pia, welcher Art die Beziehung zwischen Elard Kaltensee und Marcus Nowak war. Ihr fielen die Fotos an den Wändenin seiner Wohnung im Kunsthaus ein. Die Rückansicht eines nackten Mannes, die dunklen Augen in Großaufnahme. Die Jeans auf dem Boden des Badezimmers. Marcus Nowak hatte seine Ehefrau tatsächlich betrogen. Aber nicht mit einer anderen Frau, sondern mit Elard Kaltensee.
Siegbert Kaltensee saß zusammengesackt auf dem Stuhl in einem der Verhörräume und starrte vor sich hin. Seit dem Vortag schien er Bodenstein um Jahre gealtert. Alles Rosige und Joviale war verschwunden, sein Gesicht war grau und eingefallen.
»Haben Sie in der Zwischenzeit etwas von Ihrer Mutter gehört?«, begann Bodenstein das Gespräch. Kaltensee schüttelte stumm den Kopf.
»Wir haben mittlerweile sehr interessante Dinge erfahren. Zum Beispiel, dass Ihr Bruder Elard in Wirklichkeit gar nicht Ihr Bruder ist.«
»Wie bitte?« Siegbert Kaltensee hob den Kopf und starrte Bodenstein an.
»Wir haben die Mörderin von Goldberg, Schneider und Frau Frings gefasst, sie war geständig«, fuhr Bodenstein fort. »Die drei hießen in Wirklichkeit Oskar Schwinderke, Hans Kallweit und Maria
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