Tiefe Wunden
dem Boden, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Nichts erinnerte mehr an die vornehme Dame von Welt. Ihr weißes Haar stand wirr von ihrem Kopf ab, sie war nicht geschminkt, und ihre Kleider waren staubig und zerknittert. Pia sah die Anspannung in Elard Kaltensees Gesicht. Er zwinkerte mit den Augen, befeuchtete seine Lippen nervös mit der Zunge. Ein falsches Wort nur, eine falsche Bewegung konnte ihn dazu veranlassen zu schießen.
Als Bodenstein und Dr. Engel unverrichteter Dinge vom Mühlenhof zurückkehrten, weil dort offenbar alle ausgeflogen waren, wartete Siegbert Kaltensee bereits auf dem Kommissariat.
»Was willst du eigentlich von ihm?«, fragte Nicola Engel, als sie die Stufen zum Büro hinaufgingen.
»Erfahren, wo Moormann und Ritter sind«, entgegnete Bodenstein mit grimmiger Entschlossenheit. Viel zu lange hatte er sich auf das Offensichtliche konzentriert und das Naheliegende dabei übersehen. Siegbert, der sein Leben lang im Schatten Elards gestanden hatte, war von seiner Mutter genauso benutzt worden wie jeder andere Mensch in ihrer Umgebung.
»Wieso sollte er das wissen?«
»Er ist der verlängerte Arm seiner Mutter, und die hat das alles befohlen.«
Nicola Engel blieb stehen und hielt ihn zurück.
»Wie kommst du eigentlich darauf, dass Jutta Kaltensee dich in eine Falle locken wollte?«, fragte sie ernst. Bodenstein sah sie an. In ihren Augen lag aufrichtiges Interesse.
»Jutta Kaltensee ist eine sehr ehrgeizige Frau«, sagte er. »Sie hat erkannt, dass die Morde im Umfeld ihrer Familie ausgesprochen schädlich für ihre Karriere sein könnten. Eine aufsehenerregende Biographie, die Negativschlagzeilen macht, ist das Letzte, was sie braucht. Wer von ihnen den Mord an Robert Watkowiak und seiner Freundin befohlen hat, weiß ich noch nicht, aber die beiden mussten sterben, um uns auf eine falsche Fährte zu locken. Die Spuren zu Elard Kaltensee wurden gelegt, um ihn ebenfalls unglaubwürdig zu machen. Als wir immer noch weiterbohrten, entschloss sie sich in einem verzweifelten Schritt, mich zu kompromittieren. Der leitende Ermittler, der ein Mitglied der Familie Kaltensee zu sexuellen Handlungen zwingt – was kann es Besseres geben?«
Nicola Engel sah ihn nachdenklich an.
»Sie hat sich mit mir verabredet, um mir angeblich etwas zu erzählen«, fuhr Bodenstein fort. »Ich kann mich an den Abend kaum noch erinnern, obwohl ich nur ein Glas Wein getrunken hatte. Ich war wie benebelt. Deshalb habe ich mir gestern eine Blutprobe entnehmen lassen. Dr. Kirchhoff hat festgestellt, dass man mir heimlich Liquid Ecstasy verabreicht hat. Verstehst du? Sie hat das geplant!«
»Um dich kaltzustellen?«, vermutete Nicola Engel.
»Anders kann ich es mir nicht erklären«, Bodenstein nickte. »Sie will Ministerpräsidentin werden, aber das wird sie kaum schaffen mit einer Mörderin als Mutter und einem Skelett auf dem Grundstück des Familienanwesens. Jutta wird sich von der Familie distanzieren, um zu überleben. Und mit dem, was sie mit mir getan hat, will sie mich im Notfall erpressen.«
»Sie hat doch keine Beweise, oder?«
»Ganz sicher hat sie die«, erwiderte Bodenstein bitter. »Sie ist clever genug, um irgendetwas aufzuheben, an dem meine DNA nachweisbar ist.«
»Du könntest wirklich recht haben«, räumte Nicola Engel nach kurzem Nachdenken ein.
»Ich habe recht.« Bodenstein ging weiter. »Du wirst sehen.«
Eine Weile war es ganz still im Gewölbe. Pia holte tief Luft und machte einen Schritt nach vorne.
»Sie können es ruhig erzählen, Edda Schwinderke«, sagte sie laut und trat mit erhobenen Händen ins Licht. »Wir wissen nämlich, was hier passiert ist.«
Elard Kaltensee fuhr herum und starrte sie an wie einen Geist. Auch Vera alias Edda war erschrocken zusammengezuckt, erholte sich aber schnell von ihrer Überraschung.
»Frau Kirchhoff! «, rief sie mit der zuckersüßen Stimme, die Pia an ihr kannte. »Sie schickt der Himmel! Helfen Sie mir, bitte!«
Pia beachtete sie nicht und ging zu Elard Kaltensee.
»Machen Sie sich jetzt nicht unglücklich. Geben Sie mir die Waffe.« Sie streckte die Hand aus. »Wir kennen die Wahrheit und wissen, was sie getan hat.«
Elard Kaltensee richtete den Blick wieder auf die vor ihm kniende Frau.
»Das ist mir egal.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich bin nicht tausend Kilometer gefahren, um jetzt aufzugeben. Ich will eine Aussage von dieser mörderischen alten Hexe. Jetzt.«
»Ich habe einen Spezialisten mitgebracht,
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