Tiefe Wunden
mit«, sagte sie entschlossen. »Fahren wir.«
Pia ging langsam um das dunkle Auto herum, das achtlos zwischen Disteln und Schutthaufen abgestellt worden war. Die Türen waren nicht abgeschlossen. Derjenige, der mit dem Auto hierhergekommen war, hatte es eilig gehabt. Leise entfernte sie sich und berichtete Henning und Miriam von ihrem Fund. Nach wie vor hatte keines ihrer Handys Empfang, aber Bodenstein hätte ihnen jetzt ohnehin nicht helfen können.
»Vielleicht sollten wir besser die polnische Polizei einschalten«, überlegte Pia.
»Quatsch.« Henning schüttelte den Kopf. »Was willst du denen erzählen? Da steht ein Auto, können Sie bitte mal herkommen? Die lachen dich doch aus.«
»Wer weiß, was sich da unten in dem Keller abspielt«, gab Pia zu bedenken.
»Das werden wir schon sehen«, erwiderte Henning und marschierte entschlossen los. Pia hatte ein ungutes Gefühl, aber es war Unsinn, so kurz vor dem Ziel umzukehren. Wer konnte den Maibach von Deutschland hierhergefahren haben und warum? Nach kurzem Zögern folgte sie Miriam und ihrem Exmann.
Das einstmals prachtvolle Schloss war beinahe völlig ein gestürzt. Die äußeren Mauern standen noch, aber das Erdgeschoss war verschüttet und bot daher keinen Zugang zum Keller.
»Hier!«, rief Miriam mit halblauter Stimme. »Hier ist vor kurzem jemand entlanggegangen!«
Zu dritt folgten sie einem schmalen Pfad durch Brennnesseln und Gestrüpp Richtung See. Niedergetretene Gräser ließen darauf schließen, dass der Weg erst vor kurzer Zeit benutzt worden war. Sie bahnten sich einen Weg durch das mannshohe Schilf, das leise im Wind rauschte. Ihre Füße quatschten im Morast, Henning fluchte erschrocken, als direkt neben ihnen mit lautem Geschnatter zwei Wildenten aufflogen. Pias Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Es war heiß geworden, der Schweiß rann ihr in die Augen. Was erwartete sie im Keller des Schlosses? Wie sollte sie sich verhalten, wenn sie tatsächlich auf Vera oder Elard Kaltensee trafen? Sie hatte Bodenstein versprochen, kein Risiko einzugehen. Wäre es nicht doch klüger, die polnische Polizei zu verständigen?
»Ah ja«, sagte Miriam. »Hier sind Treppenstufen.«
Die brüchigen Stufen schienen ins Nichts zu führen, da der rückwärtige Teil des Schlosses in Schutt und Asche lag. DieMarmorplatten der einstigen Terrasse mit spektakulärem See blick waren längst verschwunden. Miriam blieb stehen und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß vom Gesicht. Sie wies auf ein Loch, das zu ihren Füßen gähnte. Pia schluckte und kämpfte einen Augenblick mit sich, bevor sie als Erste hinabkletterte. Sie wollte nach ihrer Pistole greifen, als ihr einfiel, dass sie sie auf Bodensteins Anweisung in Deutschland gelassen hatte. Innerlich fluchend, tastete sie sich über einen Berg von Schutt abwärts in die Dunkelheit.
Die Keller des Schlosses Lauenburg hatten Feuer, Krieg und den Zahn der Zeit erstaunlich gut überstanden, die meisten Räume waren noch vorhanden. Pia versuchte, sich zu orientieren. Sie hatte keine Ahnung, an welcher Stelle des weitläufigen Kellers sie sich befanden.
»Lass mich vorgehen«, sagte Henning, der eine Taschenlampe eingesteckt hatte. Eine Ratte huschte über das Geröll und verharrte einen Moment im Lichtkegel. Pia verzog angeekelt das Gesicht. Nach ein paar Metern blieb Henning unvermittelt stehen und knipste die Lampe aus. Pia stieß unsanft gegen ihn und taumelte.
»Was ist?«, flüsterte sie angespannt.
»Da redet jemand«, erwiderte er leise. Sie standen ganz still und lauschten, aber außer ihren Atemzügen war eine ganze Weile nichts zu hören. Pia zuckte erschrocken zusammen, als beinahe direkt neben ihr eine herrische Frauenstimme ertönte.
»Mach mir jetzt die Fesseln ab, sofort! Was fällt dir ein, mich so zu behandeln?«
»Sag mir, was ich hören will, dann mach ich dich los«, er widerte ein Mann.
»Ich sage überhaupt nichts. Und hör endlich auf, mit diesem Ding herumzufuchteln!«
»Erzähl mir, was hier passiert ist, am 1 6. Januar 1945! Sag,was ihr getan habt, du und deine Freunde, und ich mache dich sofort los.«
Pia schob sich mit klopfendem Herzen an Henning vorbei und blickte mit angehaltenem Atem um die Ecke. Ein tragbarer Scheinwerfer warf einen grellen Lichtstrahl an die Decke und erhellte den niedrigen Kellerraum. Elard Kaltensee stand hinter der Frau, die er sein Leben lang für seine Mutter gehalten hatte, und drückte ihr den Lauf einer Pistole ins Genick. Sie kniete auf
Weitere Kostenlose Bücher