Tiefe Wunden
vollführen. Henning hatte so etwas nie getan, zärtliche Berührungen in der Öffentlichkeit als »geschmacklose Zurschaustellung primitiven Besitzerstolzes« bezeichnet und stets peinlich vermieden. Pia mochte es. Sie leerten zu dritt eine weitere Runde Champagner, dann noch eine. Pia erzählte von ihrem Ausflug in die Umstandsmodenabteilung bei H&M, und sie lachten Tränen darüber. Bevor sie sich versah, war es halb eins, und Pia stellte fest, dass sie sich schon lange nicht mehr so gut und entspannt amüsiert hatte. Henning hätte entweder spätestens ab zehn Uhr nach Hause oder ins Institut gewollt oder in irgendeiner Ecke mit irgendwem wichtige Gespräche geführt, von denen sie automatisch ausgeschlossen war. Diesmal war es anders. Christoph hatte in Pias heimlicher Punktewertung auch in der Kategorie »Ausgehen« die volle Punktzahl erreicht.
Als sie das Zoogesellschaftshaus verließen und sich Hand in Hand auf die Suche nach ihrem Auto machten, lachten sie noch immer, und Pia wusste, dass sie kaum glücklicher sein konnte als in diesem Moment.
Bodenstein fuhr zusammen, als Cosima im Türrahmen seines Arbeitszimmers erschien.
»Hallo«, sagte er. »Und, wie war deine Besprechung?«
Cosima kam näher und legte den Kopf schief.
»Äußerst konstruktiv.« Sie lächelte und küsste ihn auf die Wange. »Keine Angst, ich habe nicht vor, selbst durch den Urwald zu klettern. Aber ich habe Wilfried Dechent als Expeditionsleiter gewinnen können.«
»Ich habe mich schon gefragt, ob du Sophia mitnimmst oder ob ich Urlaub beantragen muss«, erwiderte er und ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken. »Wie spät ist es eigentlich?«
»Gleich halb eins.« Sie beugte sich vor und blickte auf den Bildschirm seines Laptops. »Was machst du da?«
»Ich suche Informationen über den Mann, der erschossen wurde.«
»Und?«, erkundigte sie sich. »Hast du etwas herausgefunden?«
»Nicht besonders viel.« Bodenstein fasste kurz zusammen, was er über Goldberg in Erfahrung gebracht hatte. Er besprach sich gerne mit Cosima. Sie besaß einen scharfen Verstand und genügend Distanz zu seinen Fällen, um ihm auf die Sprünge helfen zu können, wenn er bei langwierigen Ermittlungen gelegentlich vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sah. Als er ihr vom Ergebnis der Obduktion berichtete, riss sie überrascht die Augen auf.
»Das glaube ich nicht!«, sagte sie voller Überzeugung. »Das kann nie und nimmer wahr sein!«
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, erwiderte Bodenstein. »Kirchhoff hat sich noch nie geirrt. Auf den ersten Blick weist tatsächlich nichts darauf hin, dass Goldberg eine dunkle Vergangenheit hatte. Aber in über sechzig Jahren kann man natürlich viel vertuschen. Sein Terminkalender ist nichtssagend, ein paar Vornamen und Abkürzungen, mehr nicht. Nur unter dem heutigen Datum standen ein Name und eine Zahl.«
Er gähnte und rieb sich den Nacken. »Vera 85. Klingt wie ein Passwort. Mein Passwort bei Hotmail ist zum Beispiel Cosi ...«
»Vera 85?«, unterbrach Cosima ihn und richtete sich auf. »Mir ging heute Morgen schon etwas durch den Kopf, als du Goldbergs Namen erwähnt hast.«
Sie legte ihren Zeigefinger an die Nase und runzelte die Stirn.
»Ach ja? Und was?«
»Vera. Vera Kaltensee. Sie hat heute ihren 85. Geburtstag bei Quentin und Marie-Louise gefeiert. Rosalie hat davon erzählt, und meine Mutter war sogar eingeladen.«
Bodenstein spürte, wie seine Müdigkeit schlagartig verschwand. Vera 85 . Vera Kaltensee, 85. Geburtstag. Das wäre eine Erklärung für die rätselhafte Notiz im Tagebuch des Toten! Selbstverständlich wusste er, wer Vera Kaltensee war. Für ihre unternehmerischen Leistungen, aber auch für ihr großzügiges soziales und kulturelles Engagement hatte Vera Kaltensee, die in einem Atemzug mit so einflussreichen Frauen wie Aenne Burda oder Friede Springer genannt wurde, zahllose Auszeichnungen und Ehrungen erhalten. Aber was hatte diese Dame untadeligsten Rufes mit einem ehemaligen SS-Angehörigen zu tun? Ihr Name im Zusammenhang mit diesem Mann würde dem ganzen Fall eine zusätzliche Brisanz verleihen, auf die Bodenstein liebend gerne verzichtet hätte.
»Kirchhoff muss sich geirrt haben«, sagte Cosima gerade. »Vera wäre niemals mit einem früheren Nazi befreundet gewesen, schon gar nicht, nachdem sie ja durch die Nazis 1945 alles verloren hat, ihre Familie, ihre Heimat, das Schloss in Ostpreußen ...«
»Vielleicht wusste sie es nicht«, gab Bodenstein
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