Tiefe Wunden
hoffte, weder seiner Frau noch einer ihrer Freundinnen in die Arme zu laufen. Wann war ihm klar geworden, dass er Tina nicht mehr liebte? Er wusste selbst nicht, was sich verändert hatte. Es musste an ihm liegen, denn Tina war so wie immer. Sie fühlte sich wohl in ihrem Leben, das ihm plötzlich zu eng geworden war. Unauffällig verschwand er aus dem Festzelt und nahm die Abkürzung durch die Vereinskneipe. Zu spät bemerkte er seinen Fehler. Sein Vater, der mit seinen Kumpels am Tresen saß, wie beinahe jeden Abend, hatte ihn schon erspäht.
»He, Marcus! « Manfred Nowak wischte sich mit dem Handrücken den Bierschaum aus dem Schnauzbart. »Komm mal her!«
Marcus Nowak fühlte, wie sich in ihm alles zusammenzog, gehorchte aber. Er erkannte, dass sein Vater schon ordentlicheinen im Tee hatte, und wappnete sich innerlich. Ein rascher Blick auf die Uhr an der Wand zeigte ihm, dass es gleich halb zwölf war.
»Ein Weizen für meinen Sohn!«, orderte sein Vater mit dröhnender Stimme, dann wandte er sich an die anderen älteren Herren, die immer noch in Trainingsanzügen und Sportschuhen herumliefen, obwohl ihre bescheidenen sportlichen Erfolge Jahrzehnte zurücklagen.
»Mein Sohn kommt jetzt ganz groß raus! Er baut nämlich die Frankfurter Altstadt wieder auf, Haus für Haus! Da staunt ihr, was?«
Manfred Nowak klopfte Marcus auf den Rücken, aber in seinen Augen lagen weder Anerkennung noch Stolz, sondern purer Hohn. Er fuhr damit fort, ihn zu verspotten, und Marcus sagte keinen Ton, was seinen Vater noch mehr in Fahrt brachte. Die Männer grinsten. Sie wussten alle bestens Bescheid über den Bankrott von Nowaks Bauunternehmen und Marcus’ Weigerung, die Firma zu übernehmen, denn in einem Örtchen wie Fischbach blieb nichts verborgen, schon gar nicht eine solch grandiose Niederlage. Die Bedienung stellte das Weizenbier auf den Tresen, doch er rührte es nicht an.
»Prost!«, rief sein Vater und hob das Glas. Alle tranken, bis auf Marcus.
»Was ist? Bist dir wohl zu fein dafür, mit uns zu trinken, was?«
Marcus Nowak sah den trunkenen Zorn in den Augen seines Vaters.
»Ich hab keine Lust mehr auf deine blöden Sprüche«, sagte er. »Erzähl das deinen Freunden, wenn du willst. Vielleicht glaubt es dir noch einer.«
Der lang aufgestaute Groll seines Vaters entlud sich in dem Versuch, seinem jüngsten Sohn eine Ohrfeige zu verpassen,wie früher so häufig. Der Alkohol verlangsamte jedoch seine Bewegungen, und Marcus wich dem Schlag ohne große Mühe aus. Er sah mitleidslos zu, wie sein Vater das Gleichgewicht verlor, mitsamt Barhocker krachend zu Boden ging, und suchte das Weite, bevor er wieder auf die Beine kam. Vor der Tür des Vereinsheims atmete er tief durch und überquerte mit schnellen Schritten den Parkplatz. Er setzte sich ins Auto und gab mit quietschenden Reifen Gas. Keine zweihundert Meter weiter stoppte ihn die Polizei.
»Na«, der eine Beamte leuchtete ihm mit seiner Taschenlampe ins Gesicht, »schön in den Mai getanzt?«
Das klang gehässig. Er erkannte die Stimme. Siggi Nitschke hatte beim SV Ruppertshain in der ersten Mannschaft gespielt, als Marcus über Jahre hinweg Torschützenkönig der Kreisliga gewesen war.
»Hallo, Siggi«, sagte er deshalb.
»Ach, schau an. Der Nowak. Der Herr Unternehmer . Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte.«
»Hab ich nicht dabei.«
»So ein Pech aber auch«, spottete Nitschke. »Dann steigen Sie mal aus.«
Marcus seufzte und gehorchte. Nitschke hatte ihn noch nie leiden können, hauptsächlich deshalb, weil er als Fußballspieler immer eine Klasse schlechter gewesen war. Ihn nun angehalten zu haben musste für Nitschke ein innerer Reichsparteitag sein. Er ließ es sich widerspruchslos gefallen, wie ein Schwerverbrecher behandelt zu werden. Sie ließen ihn in den Alkotester blasen und waren offensichtlich sauer, als auf dem Display des Gerätes eine Null erschien.
»Drogen?« So leicht wollte Nitschke ihn nicht entkommen lassen. »Was geraucht? Oder durch die Nase gezogen?«
»Quatsch«, erwiderte Marcus, der keinen Ärger wollte. »So was hab ich noch nie gemacht. Das weißt du genau.«
»Keine plumpen Vertraulichkeiten. Ich bin im Dienst. Polizeimeister Nitschke für Sie, verstanden?«
»Ach, lass ihn doch fahren, Siggi«, sagte sein Kollege halb laut. Polizeimeister Nitschke starrte Marcus grimmig an und überlegte angestrengt, wie er ihn doch noch drankriegen konnte. Auf eine Gelegenheit wie diese würde er für den Rest seines Lebens
Weitere Kostenlose Bücher