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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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warten müssen.
    »Spätestens um zehn Uhr morgen früh legen Sie meinen Kollegen auf dem Kelkheimer Revier Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere vor«, sagte er schließlich. »Na los, verpiss dich. Hast Glück gehabt.«
    Ohne noch etwas zu sagen, stieg Marcus ins Auto, ließ den Motor an, legte den Gurt an und fuhr los. Alle guten Vorsätze hatten sich in Luft aufgelöst. Er ergriff sein Handy und schrieb eine kurze Antwort. Bin auf dem Weg. Bis gleich.

Dienstag, 1. Mai 2007
    Bodensteins Finger trommelten ungeduldig auf das Lenkrad. In Eppenhain war die Leiche eines Mannes gefunden worden, aber die einzige Straße, die in den entlegenen Kelkheimer Stadtteil führte, war von der Polizei abgesperrt. Die Teilnehmer des Radrennens »Rund um den Henninger Turm« kämpften sich zum zweiten Mal an diesem Vormittag die steile Steigung von Schlossborn nach Ruppertshain hinauf, Hunderte von Menschen säumten die Straßenränder und warteten vor Videoleinwänden in der engen Kurve am Zauberberg. Endlich kamen die ersten Radler in Sicht. Die Vorhut sauste wie eine magentafarbene Wolke vorbei, dann folgte das Hauptfeld in allen Farben des Regenbogens. Dazwischen, daneben und dahinter die Versorgungsfahrzeuge, dicht an dicht, und in der Luft kreiste der Hubschrauber vom Hessischen Fernsehen, das die gesamte Veranstaltung live übertrug.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein gesunder Sport ist«, ließ sich Pia Kirchhoff vom Beifahrersitz aus vernehmen. »Die fahren doch nur in den Abgasen ihrer Begleitfahrzeuge.«
    »Sport ist Mord«, bestätigte Bodenstein, dem Leistungssportler beinahe so suspekt waren wie religiöse Fanatiker.
    »Fahrradfahren auf jeden Fall. Ganz besonders für Männer. Ich habe neulich irgendwo gelesen, dass Männer, die häufig Fahrrad fahren, impotent werden«, sagte Pia und fügte übergangsloshinzu: »Kollege Behnke fährt übrigens bei den Jedermännern mit. Immerhin die 100-Kilometer-Bergstrecke.«
    »Wie darf ich denn das verstehen? Haben Sie etwa Insiderwissen über Behnkes Gesundheitszustand, das Sie mir vorenthalten?« Bodenstein konnte ein belustigtes Grinsen nicht unterdrücken. Noch immer war das Verhältnis zwischen Pia Kirchhoff und Behnke nicht ganz ungetrübt, auch wenn aus der offenen Feindseligkeit zwischen ihnen seit letztem Sommer allmählich kollegiale Akzeptanz geworden war. Erst jetzt begriff Pia, was sie gesagt hatte.
    »Um Gottes willen, nein.« Sie lachte verlegen. »Die Straße ist frei.«
    Niemand, der Hauptkommissar Oliver von Bodenstein kennenlernte, hätte vermutet, wie versessen er insgeheim auf jede Art von Klatsch und Tratsch war. Rein äußerlich machte Pias Chef, der stets in Anzug und Krawatte auftrat, den Eindruck eines Mannes, der souverän über den Dingen stand und mit aristokratischer Höflichkeit das Privatleben anderer Menschen ignorierte. Aber das täuschte. In Wirklichkeit war seine Neugier geradezu unstillbar und sein Gedächtnis erschreckend gut. Vielleicht machte die Kombination dieser beiden Charaktereigenschaften Bodenstein zu dem brillanten Kriminalbeamten, der er zweifellos war.
    »Bitte sagen Sie das Behnke bloß nicht«, bat Pia. »Er könnte es gründlich missverstehen.«
    »Das muss ich mir noch mal gut überlegen«, entgegnete Bodenstein grinsend und lenkte seinen BMW in Richtung Eppenhain.
     
    Marcus Nowak wartete im Auto, bis seine Familie das Haus verlassen hatte und davongefahren war, zuerst seine Eltern, dann sein Bruder mit Familie, schließlich auch Tina mit den Kindern. Wie er sie kannte, würden sie alle miteinander jetztzum Radrennen fahren, also eine ganze Weile weg sein, und das war ihm recht. Das Rennen verpassten sie nie, selbst wenn sie bis in die frühen Morgenstunden gefeiert hatten – der Schein musste gewahrt werden. Er war heute Morgen schon zwölf Kilometer gelaufen, seine übliche Strecke über den Reis bis zum Hofgut Bodenstein, hinauf nach Ruppertshain und durch den Wald in einem großen Bogen wieder zurück. Normalerweise entspannte ihn das Laufen und machte seinen Kopf frei, aber heute hatte er den Gewissensbissen und seinen heftigen Schuldgefühlen nicht weglaufen können. Er hatte es schon wieder getan, obwohl er genau wusste, dass er dafür in der tiefsten Hölle schmoren würde. Er stieg aus seinem Auto, schloss die Haustür auf und rannte die Treppe hoch in seine Wohnung im zweiten Stock. Für einen Moment blieb er mit hängenden Armen mitten im Wohnzimmer stehen. Alles sah aus wie immer an einem

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