Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
Vom Netzwerk:
frühen Morgen, der Frühstückstisch war noch nicht abgeräumt, Spielzeug lag herum. Beim Anblick der vertrauten Normalität schossen ihm Tränen in die Augen. Dies war nicht mehr seine Welt und würde es nie mehr sein! Woher kam nur plötzlich dieser dunkle Trieb, diese Lust am Verbotenen? Tina, die Kinder, Freunde und Familie – warum setzte er all das aufs Spiel? Bedeutete es ihm wirklich nichts mehr?
    Er betrat das Badezimmer und erschrak, als er sein eingefallenes Gesicht und die blutunterlaufenen Augen im Spiegel sah. Gab es für ihn noch einen Weg zurück, wenn niemand davon erfuhr, was er getan hatte? Wollte er denn überhaupt zurück? Nackt trat er unter die Dusche und drehte das Wasser auf. Kalt. Eiskalt. Strafe musste sein. Er keuchte durch die zusammengebissenen Zähne, als der eisige Strahl auf seine verschwitzte Haut traf. Er konnte es nicht verhindern, dass die Bilder der vergangenen Nacht wieder auf ihn einstürmten. Wie er vor ihm gestanden und ihn angesehen hatte,erstaunt, nein, entsetzt! Ohne den Blick abzuwenden, war er dann langsam vor ihm in die Knie gegangen, hatte ihm den Rücken zugewandt und zitternd darauf gewartet, dass er ... Aufschluchzend schlug er die Hände vors Gesicht.
    »Marcus?«
    Er zuckte erschrocken zusammen, als er durch das feuchte Glas schemenhaft die Gestalt seiner Großmutter erkannte. Eilig drehte er das Wasser ab und schlang sich das Handtuch, das er über die Glastür der Dusche gelegt hatte, um seine Hüften.
    »Was hast du?«, fragte Auguste Nowak besorgt. »Geht es dir nicht gut?«
    Er trat aus der Dusche und begegnete ihrem prüfenden Blick.
    »Ich wollte es nicht wieder tun«, stieß er verzweifelt her vor. »Wirklich, Oma, aber ... aber ich ...«
    Er verstummte, suchte vergeblich nach einer Erklärung. Die alte Frau nahm ihn in die Arme. Erst sperrte er sich gegen ihre Umarmung, aber dann lehnte er sich gegen sie, atmete ihren vertrauten Geruch ein.
    »Warum tue ich so etwas?«, flüsterte er verzweifelt. »Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist! Bin ich nicht normal?«
    Sie nahm sein Gesicht in ihre schwieligen Hände und blickte ihn aus ihren erstaunlich jugendlichen Augen bekümmert an.
    »Quäl dich doch nicht so, Junge«, sagte sie leise.
    »Aber ich verstehe mich selbst nicht mehr«, erwiderte er mit gepresster Stimme. »Und wenn jemand davon erfährt, dann ...«
    »Wie soll es denn jemand erfahren? Dich hat doch dort niemand gesehen, oder?« Sie klang wie eine Verschwörerin. »Ich ... ich glaube nicht.« Er schüttelte den Kopf. Wiekonnte seine Großmutter nur Verständnis für seine Taten haben?
    »Na also.« Sie ließ ihn los. »Jetzt zieh dir was an. Und dann kommst du runter zu mir, ich mache dir einen Kakao und ein ordentliches Frühstück. Du hast sicher noch nichts gegessen.«
    Wider Willen musste Marcus Nowak lächeln. Das war das Patentrezept seiner Großmutter: Essen half immer. Als er ihr nachblickte, fühlte er sich tatsächlich ein ganz klein wenig getröstet.
     
    Das Haus von Herrmann Schneider war ein repräsentativer, aber verwohnter Walmdachbungalow und lag direkt am Waldrand, umgeben von einem großen, ziemlich ungepflegten Garten. Die Leiche war von einem Zivildienstleistenden des Malteser Hilfsdienstes gefunden worden, der jeden Morgen nach dem alten Herrn schaute. Bodenstein und Pia Kirchhoff erlebten ein schauriges Déjà-vu. Der Mann kniete auf dem Fliesenboden in der Diele seines Hauses, die tödliche Kugel war in seinen Hinterkopf eingedrungen. Es sah aus wie eine Hinrichtung, genau wie bei David Goldberg.
    »Bei dem Toten handelt es sich um Herrmann Schneider, geboren am 2. März 1921 in Wuppertal.« Die junge sommersprossige Polizeimeisterin, die mit ihrem Kollegen als Erste vor Ort gewesen war, hatte sich schon gründlich und umfassend informiert. »Lebte seit dem Tod seiner Frau vor ein paar Jahren alleine hier, wurde dreimal täglich vom Pflegedienst besucht, bekam Essen auf Rädern.«
    »Haben Sie sich schon bei den Nachbarn umgehört?«
    »Selbstverständlich.« Die tüchtige Polizeimeisterin warf Bodenstein einen etwas verärgerten Blick zu. Wie überall im Leben gab es auch innerhalb der Polizei Animositäten. Die Streifenpolizisten waren der Meinung, dass sich die Kripoleutefür etwas Besseres hielten und auf sie herabsahen, und im Prinzip hatten sie damit nicht ganz unrecht.
    »Die Nachbarin, die direkt nebenan wohnt, hat zwei Männer gesehen, die Schneider so gegen halb neun besucht haben. Um kurz nach elf sind

Weitere Kostenlose Bücher