Tiefe Wunden
fehlende Zahnwurzeln eingefallenen Mund und die schweren Schlupflider sah. Fast fünfundachtzig, dachte sie. Unglaublich, dass sie bald so alt sein sollte! Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich keinen Tag älter als fünfzig. Sie war zäh und kräftig und immer noch gelenkiger als manche Dreißigjährige. Mit sechzig hatte sie den Führerschein gemacht, mit siebzig ihren ersten Urlaub. Sie erfreute sich an Kleinigkeiten, haderte nicht mit ihrem Schicksal. Außerdem hatte sie noch etwas zu erledigen, etwas immens Wichtiges. Der Tod, dem sie schon vor über sechzig Jahren das erste Mal direkt ins Gesicht geschaut hatte, würde sich gedulden müssen, bis sie alles geregelt hatte. Auguste zwinkerte ihrem Spiegelbild zu und verließ das Haus. Sie überquerte den Hof, schloss die Tür zum Bürogebäude auf und betrat Marcus’ Büro im Anbau neben der Werkshalle, die er auf der Wiese unterhalb von Augustes Häuschen vor ein paar Jahren gebaut hatte. Die Uhr über dem Schreibtisch zeigte halb zwölf! Sie musste sich beeilen, wenn niemand etwas von ihrem kleinen Ausflug mitbekommen sollte.
Er hörte die stampfenden Bässe der Musik schon, als er über den vollgeparkten Parkplatz ging. Der DJ spielte sämtliche Ballermann-Hits rauf und runter, und die Leute waren besoffener, als Marcus Nowak es um diese Uhrzeit für möglich gehalten hatte. Auf dem Rasenplatz spielten ein paar Kinder, darunter seine eigenen, Fußball, im Festzelt drängten sich ungefähr dreihundert Leute. Die älteren Semester hatten sich an den Tresen des Sportlerheims zurückgezogen, bis auf ein paar Ausnahmen. Marcus wurde übel beim Anblick der beiden deutlich angeheiterten Herren vom Vorstand, die lüstern die jungen Mädchen anglotzten.
»Hey, Nowak!« Eine Hand krachte auf seine Schulter, undjemand blies ihm seinen Schnapsatem ins Gesicht. »Dass du hier auftauchst!«
»Hi, Stefan«, erwiderte Marcus. »Hast du Tina gesehen?«
»Nee, sorry. Aber komm doch rüber zu uns. Trink einen mit, Alter.«
Er fühlte sich am Arm gepackt und folgte dem anderen widerwillig quer durch die schwitzende, ausgelassene Menge in den hinteren Teil des Festzeltes.
»Ey, Leute!«, brüllte Stefan. »Guckt mal, wen ich mit gebracht habe!«
Alle wandten sich zu ihnen um, grölten und feixten. Er blickte in vertraute Gesichter mit glasigen Augen, die ihm verrieten, dass der Alkohol schon eine ganze Weile in Strömen floss. Früher war er einer von ihnen gewesen, sie waren Schul- oder Sportkameraden, Kerbeburschen, hatten zusammen von der E-Jugend bis zur 1. Mannschaft Fußball gespielt, gemeinsam Dienst bei der Freiwilligen Feuerwehr getan und so manches Fest wie dieses gefeiert. Er kannte sie alle, von Kindesbeinen an, aber auf einmal kamen sie ihm vor wie Fremde. Sie rutschten zusammen, er setzte sich grinsend, machte gute Miene zum bösen Spiel. Jemand drückte ihm ein Glas Maibowle in die Hand, man prostete ihm zu, und er trank. Wann hatte es angefangen, dass ihm das alles nicht mehr gefallen hatte? Warum hatte er nicht mehr denselben Spaß an diesen schlichten Vergnügungen wie seine Kumpels von früher? Während die anderen im Fünf-Minuten-Takt die Gläser leerten, hielt er sich an seiner Maibowle fest. Plötzlich spürte er den Vibrationsalarm seines Handys in der Hosentasche. Er pulte das Gerät aus der Jeans, und sein Herz machte einen Satz, als er sah, wer ihm eine SMS geschrieben hatte. Der Inhalt ließ das Blut in sein Gesicht schießen.
»Du, Marcus, isch will dir maln Rat gebn, als guder Freund«, lallte ihm Chris Wiethölter, einer der Jugendtrainer,mit dem er früher in einer Mannschaft gespielt hatte, ins Ohr. »Der Heiko is ganz schön scharf auf die Tina. Da solltest du’n Auge drauf haben.«
»Ja, danke. Mach ich«, erwiderte er abwesend. Was sollte er auf die SMS antworten? Einfach ignorieren? Das Handy ausschalten und sich mit den Kumpels von früher betrinken? Er saß wie gelähmt auf der Bank, hielt das Glas mit der inzwischen lauwarmen Bowle umklammert, unfähig, klar zu denken.
»Ich mein ja nur. So unner Freundn«, nuschelte Wiethölter, kippte sein Bier in einem Zug herunter und rülpste.
»Du hast recht.« Nowak stand auf. »Ich geh mal nach ihr gucken.«
»Ja, mach das, Alter ...«
Tina würde sich nie und nimmer mit Heiko Schmidt oder einem anderen Kerl einlassen, und wenn, wäre es ihm egal, aber er nutzte die Gelegenheit zur Flucht. Er kämpfte sich durch das Gedränge verschwitzter Leiber, nickte hier und da jemandem zu und
Weitere Kostenlose Bücher