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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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die einmalige Chance, seinen Namen weit über die Region hinaus bekannt zu machen, denn dasehrgeizige Projekt würde zweifellos große Aufmerksamkeit erregen.
    Das Klingeln seines Handys riss Marcus Nowak aus seinen Gedanken. Er suchte unter den Bergen von Plänen, Skizzen, Tabellen und Fotos nach dem Gerät, und sein Herz schlug schneller, als er die Nummer im verkratzten Display erkannte. Auf diesen Anruf hatte er gewartet! Sehnsüchtig und zugleich mit entsetzlich schlechtem Gewissen. Er zögerte einen Moment. Eigentlich hatte er Tina fest versprochen, später zum Sportplatz zu kommen, wo der SV Fischbach wie jedes Jahr ein Festzelt aufgebaut und eine große Party zum Tanz in den Mai organisiert hatte. Nowak betrachtete das Handy und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe, aber die Versuchung war zu stark.
    »Verdammt«, murmelte er leise und nahm das Gespräch entgegen.
     
    Er hatte den ganzen Tag keinen Tropfen Alkohol getrunken, na ja, fast keinen. Die beiden Prozac hatte er vor einer Stunde mit einem Schlückchen Wodka runtergespült, den roch man nicht. Er hatte Kurti versprochen, nichts zu trinken, und jetzt fühlte er sich richtig gut und glasklar im Kopf. Seine Hände zitterten nicht. Robert Watkowiak grinste sein Spiegelbild an. Was ein ordentlicher Haarschnitt und anständige Klamotten doch ausmachten! Der liebe Onkel Herrmann war ein richtiger deutscher Beamtenspießer und legte größten Wert auf ein sauberes, korrektes Aussehen. Es war also besser, ordentlich gekleidet und glatt rasiert bei ihm aufzutauchen, ohne Schnapsfahne und rote Augen. Zwar wäre er auch so an das Geld gekommen, aber es erschien ihm besser, seinen Wunsch höflich zu äußern.
    Nur durch puren Zufall war er vor ein paar Jahren auf das dunkle Geheimnis des Alten gestoßen, das dieser geschickt vor aller Welt verbarg – und seitdem waren sie die bestenFreunde. Was Onkel Jossi und die Stiefmama wohl dazu sagen würden, wenn sie erfuhren, was der liebe Onkel Herrmann in seinem Keller trieb? Watkowiak lachte glucksend und wandte sich vom Spiegel ab. Er war nicht so dumm, es ihnen zu sagen, denn dann wäre diese Einnahmequelle für immer versiegt. Hoffentlich lebte der alte Sack noch lange! Mit einem Lappen fuhr er über die schwarzen Lackschuhe, die er extra gekauft hatte, zusammen mit dem grauen Anzug, dem Hemd und der Krawatte. Dafür hatte er beinahe die Hälfte des Geldes von Onkel Jossi ausgegeben, aber diese Investition würde sich lohnen. Gut gelaunt machte sich Watkowiak um kurz vor acht auf den Weg. Kurti wollte ihn pünktlich um acht am Bahnhof abholen.
     
    Auguste Nowak mochte die Dämmerung, die Blaue Stunde. Sie saß auf der Holzbank hinter ihrem kleinen Häuschen und genoss die abendliche Ruhe und den würzigen Duft des nahen Waldes. Obwohl die Wetternachrichten einen deutlichen Temperaturrückgang mit Regen angekündigt hatten, war die Luft mild, und die ersten Sterne leuchteten am wolkenlosen Abendhimmel. Im Rhododendron zankten sich zwei Amseln, auf dem Dach gurrte eine Taube. Es war schon Viertel nach zehn, und die ganze Familie amüsierte sich beim Tanz in den Mai oben am Sportplatz. Bis auf Marcus, ihren Enkelsohn, der noch immer an seinem Schreibtisch saß. Das sahen sie nicht, diese Neidhammel, die sich das Maul über den Jungen zerrissen, seit er mit seiner Firma Erfolg hatte! Keiner von ihnen war bereit, sechzehn Stunden am Tag zu arbeiten, ohne Wochenende und ohne Urlaub!
    Auguste Nowak faltete die Hände im Schoß und über kreuzte die Fußknöchel. Wenn sie es recht bedachte, ging es ihr jetzt so gut wie nie zuvor in ihrem langen arbeits- und sorgenreichen Leben. Helmut, ihr vom Krieg traumatisierter,seelisch kranker Ehemann, der keine Arbeit länger als vier Wochen durchgehalten und die letzten zwanzig Jahre seines Lebens kaum noch einen Schritt vor die Tür gesetzt hatte, war vor zwei Jahren gestorben. Auguste hatte dem Drängen ihres Sohnes nachgegeben und war in das kleine Haus auf dem Firmengelände nach Fischbach gezogen. In dem Dorf im Sauerland hielt sie nach Helmuts Tod nichts mehr. Endlich hatte sie ihre Ruhe und musste nicht länger den ständig laufenden Fernseher und die Gebrechen eines Mannes ertragen, für den sie in den besten Momenten ihrer Ehe allenfalls Gleichgültigkeit empfunden hatte. Auguste hörte das Gartentürchen klappern, wandte den Kopf und lächelte erfreut, als sie ihren Enkelsohn erkannte.
    »Hallo, Oma«, sagte Marcus. »Störe ich dich?«
    »Du störst mich nie«,

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