Tiefe Wunden
erwiderte Auguste Nowak. »Willst du etwas essen? Ich hab noch Gulasch und Nudeln im Kühlschrank.«
»Nein. Danke.«
Schlecht sah er aus, angespannt und um Jahre älter als vierunddreißig. Schon seit Wochen hatte sie den Eindruck, dass ihn etwas belastete.
»Komm, setz dich zu mir.« Auguste klopfte auf das Polster neben sich, aber er blieb stehen. Sie betrachtete sein Mienenspiel. Noch immer konnte sie in seinem Gesicht lesen wie in einem Buch.
»Die anderen tanzen in den Mai«, sagte sie. »Warum gehst du nicht auch hin?«
»Mach ich ja. Ich fahre jetzt hoch zum Sportplatz. Ich wollte nur ...«
Er brach ab, überlegte einen Augenblick und blickte dann stumm zu Boden.
»Wo drückt der Schuh, hm?«, fragte Auguste. »Hat es etwas mit der Firma zu tun? Hast du Geldsorgen?«
Er schüttelte den Kopf, und als er sie endlich anblickte, versetzte es ihr einen Stich. Der Ausdruck von Qual und Verzweiflung in seinen dunklen Augen traf sie mitten ins Herz. Er zögerte noch einen Moment, aber dann setzte er sich neben sie auf die Bank und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus.
Auguste liebte den Jungen, als sei er ihr eigenes Kind. Vielleicht, weil seine Eltern vor lauter Firma und Arbeit nie Zeit für ihren jüngsten Sohn gehabt hatten und er deshalb große Teile seiner Kindheit bei ihr verbracht hatte. Aber vielleicht auch deshalb, weil er ihrem älteren Bruder Ulrich so ähnlich war. Ulrich war handwerklich unglaublich begabt gewesen, ein wahrer Künstler. Er hätte es weit bringen können, hätte der Krieg nicht seine Pläne durchkreuzt und alle Träume zerstört. Im Juni 1944 war er in Frankreich gefallen, drei Tage vor seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Auch äußerlich erinnerte Marcus sie sehr an ihren geliebten Bruder. Er hatte dieselben feinen ausdrucksstarken Gesichtszüge, das glatte dunkelblonde Haar, das ihm in die dunklen Augen fiel, und einen schönen Mund mit vollen Lippen. Doch obwohl er erst vierunddreißig war, hatten sich schon tiefe Sorgenfalten in sein Gesicht gegraben, und oft kam er Auguste vor wie ein Junge, der viel zu früh die Last eines Erwachsenen zu tragen hatte. Plötzlich legte Marcus seinen Kopf in ihren Schoß, so, wie er es als kleines Kind immer getan hatte, wenn er Trost gesucht hatte. Auguste streichelte sein Haar und summte leise vor sich hin.
»Ich habe etwas wirklich, wirklich Schlimmes getan, Oma«, sagte er mit gepresster Stimme. »Dafür komme ich in die Hölle.«
Sie spürte, wie er schauderte. Die Sonne war hinter den Bergen des Taunus verschwunden, es wurde kühl. Es dauerte noch eine Weile, aber schließlich begann er zu reden, stockend zuerst, dann immer hastiger, offenbar froh, das dunkleGeheimnis, das auf seiner Seele lastete, endlich mit jemandem teilen zu können.
Auguste Nowak blieb noch eine Weile nachdenklich im Dunkeln sitzen, nachdem ihr Enkelsohn gegangen war. Sein Geständnis hatte sie erschüttert, wenn auch weniger aus moralischen Gründen. Marcus war in dieser Familie von Kleingeistern so fehl am Platze wie ein Eisvogel unter Krähen, und dann hatte er auch noch eine Frau geheiratet, die nicht das geringste Verständnis für einen Künstler wie ihn aufbrachte. Auguste argwöhnte seit einer Weile, dass es um die Ehe ihres Enkels nicht zum Besten bestellt war, aber sie fragte ihn nie danach.
Er kam jeden Tag zu ihr und erzählte ihr von seinen großen und kleinen Sorgen, von neuen Aufträgen, von Erfolgen und Rückschlägen, kurzum, von allem, was ihn bewegte und was ein Mann eigentlich mit seiner Ehefrau besprechen sollte. Sie selbst hatte auch nicht viel übrig für die Familie, die zwar unter einem Dach lebte, aber nicht durch Zuneigung oder Respekt, sondern durch bloße Bequemlichkeit zusammengehalten wurde. Für Auguste waren sie Fremde geblieben, die nichts sagten, wenn sie redeten, und beharrlich darauf bedacht waren, die Fassade eines harmonischen Familienlebens aufrechtzuerhalten.
Als Marcus eine halbe Stunde später zum Sportplatz gefahren war, ging sie ins Haus, band sich ein Kopftuch um, ergriff die dunkle Windjacke, die Taschenlampe und nahm den Schlüssel für Marcus’ Büro vom Brett. Obwohl er ihr immer wieder sagte, sie solle es nicht tun, putzte sie regelmäßig in seinem Büro. Untätigkeit passte nicht zu ihr, und Arbeit hielt jung. Ihr Blick fiel in den Spiegel neben der Haustür. Auguste Nowak wusste, was die Jahre mit ihrem Gesicht gemacht hatten, und war dennoch manchmal verblüfft,wenn sie die Falten, den durch
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