Tiefe Wunden
mir, ich habe mir Ihren Namen nicht gemerkt.«
Bevor Pia etwas sagen konnte, ergriff Elard Kaltensee das Wort. Seine rauchige Stimme hatte einen angenehm melodiösen Klang.
»Frau Kirchhoff«, verblüffte er sie mit einem phänomenalen Namensgedächtnis. »Es ist schon eine Weile her, dass wir uns begegnet sind. Wie geht es Ihrem Gatten?«
Professor Elard Kaltensee, dachte Pia. Natürlich kannte sie ihn! Er war Kunsthistoriker und lange Jahre Dekan seines Fachbereiches an der Frankfurter Universität gewesen. Mit Henning, der als stellvertretender Leiter des rechtsmedizinischen Instituts auch zum Lehrkörper der Uni gehörte, hatte sie gelegentlich Veranstaltungen besucht, an denen auch Elard Kaltensee teilgenommen hatte. Pia erinnerte sich, dass man gemunkelt hatte, er sei kein Kostverächter und habe eine Vorliebe für junge Künstlerinnen. Er musste mittlerweile über sechzig sein, sah aber auf eine etwas verlebte Weise immer noch attraktiv aus.
»Danke der Nachfrage.« Pia unterschlug die Tatsache, dass Henning und sie seit zwei Monaten geschieden waren. »Ihm geht es gut.«
»Herrmann wurde ermordet«, ließ sich Vera Kaltensee vernehmen. Ihre Stimme zitterte wieder. »Deshalb ist die Polizei hier.«
»Ach«, Elard Kaltensee hob die Augenbrauen, »wann denn das?«
»Gestern Nacht«, antwortete Bodenstein. »Er wurde im Flur seines Hauses erschossen.«
»Das ist ja furchtbar.« Professor Kaltensee nahm die Nachricht ohne sichtbare Gemütsregung auf, und Pia überlegte, ob er wohl von der Nazivergangenheit Schneiders Kenntnis hatte. Aber das konnte sie ihn schlecht fragen. Nicht jetzt und nicht hier.
»Ihre Mutter hat uns schon erzählt, dass Herr Schneider ein guter Freund Ihres verstorbenen Vaters war«, sagte Bodenstein. Pia bemerkte den kurzen Blick, den Elard Kaltensee seiner Mutter zuwarf. Sie meinte, etwas wie Belustigung darin zu erkennen.
»Dann stimmt das wohl«, erwiderte er.
»Wir vermuten eine Parallele zum Mord an David Goldberg«, fuhr Bodenstein fort. »An beiden Tatorten sind wir auf eine Zahl gestoßen, die uns ein Rätsel aufgibt. Jemand hat die Ziffern 16145 in das Blut der Opfer gezeichnet.«
Vera Kaltensee gab einen erstickten Laut von sich.
»16145?«, wiederholte ihr Sohn nachdenklich. » Das könnte ...«
»Ach, es ist so schrecklich! Das ist einfach alles zu viel für mich!«, stieß Vera Kaltensee plötzlich hervor und bedeckte ihre Augen mit der rechten Hand. Ihre schmalen Schultern zuckten, sie schluchzte laut. Bodenstein ergriff mitfühlend ihre Linke und sagte leise, man könne das Gespräch auch später weiterführen. Pia betrachtete jedoch nicht sie, sondern ihren Sohn. Elard Kaltensee machte keine Anstalten, seine Mutter zu trösten, deren Schluchzen sich zu einem Weinkrampf steigerte. Stattdessen ging er zum Sideboard und schenkte sich ungerührt einen Cognac ein. Sein Gesicht war gänzlich unbewegt, aber in seinen Augen lag ein Ausdruck, den Pia nicht anders als verächtlich bezeichnen würde.
*
Sein Herz klopfte, und er trat etwas zurück, als er die Schritte auf der anderen Seite der Tür hörte. Dann schwang die Haustür auf. Katharinas Anblick verschlug ihm wieder einmal den Atem. Sie trug ein rosa Leinenkleid und eine weiße Jacke, das glänzende schwarze Haar fiel in großen Locken über ihre Schultern, ihre langen Beine waren sonnengebräunt.
»Hallo, Schatz. Wie geht es dir?« Thomas Ritter zwang sich zu einem Lächeln und ging auf sie zu. Sie musterte ihn kühl von oben bis unten.
»Schatz« , wiederholte sie spöttisch, »willst du mich verarschen?«
So schön, wie sie war, so derb konnte sie auch sein. Aber gerade das machte ihren Reiz aus. Erschrocken überlegte Ritter, ob Katharina wohl von ihm und Marleen erfahren haben könnte, dann verwarf er den Gedanken. Sie war seit Wochen entweder im Verlag in Zürich oder auf Mallorca, sie konnte es nicht wissen.
»Komm rein.« Sie wandte sich um, und er folgte ihr durch die weitläufige Wohnung bis hinauf auf die Dachterrasse. Ihm ging durch den Kopf, dass sich Katharina wahrscheinlich königlich darüber amüsieren würde, wenn sie erfuhr, was er getan hatte. Was die Familie Kaltensee betraf, waren sie sich in ihrer Rachsucht einig. Aber ihm war nicht ganz wohl bei der Vorstellung, mit Katharina über Marleen zu lachen.
»Also«, Katharina blieb stehen und bot ihm auch keinen Platz an, »wie weit bist du? Mein Vertriebschef wird allmählich ungeduldig.«
Ritter zögerte.
»Ich bin mit den
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