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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Betäubungsmittelgesetz, Fahren ohne Führerschein, mehrmaliger Entzug der Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit am Steuer, versuchte Vergewaltigung und so weiter.«
    »Dann lassen Sie ihn aufs Kommissariat bringen«, sagte Bodenstein.
    »Das ist nicht so einfach. Er hat keinen festen Wohnsitz, seit er vor einem halben Jahr aus dem Knast entlassen wurde.«
    »Und seine letzte Adresse? Wie lautet die?«
    »Jetzt wird es interessant«, sagte Ostermann. »Er ist noch immer auf dem Mühlenhof der Familie Kaltensee gemeldet.«
    »Wieso denn das?« Pia war verblüfft.
    »Vielleicht weil er ein uneheliches Kind vom alten Kaltensee ist«, erwiderte Ostermann. Pia warf Bodenstein einen raschen Blick zu. Konnte es ein Zufall sein, dass schon wieder der Name Kaltensee auftauchte? Ihr Handy meldete sich. Sie kannte die Nummer nicht, die im Display erschien, nahm das Gespräch aber entgegen.
    »Hallo, Pia, ich bin’s«, hörte sie die Stimme ihrer Freundin Miriam. »Störe ich gerade?«
    »Nein, tust du nicht«, antwortete Pia. »Was gibt’s?«
    »Hast du am Samstagabend schon gewusst, dass Goldberg tot ist?«
    »Ja«, sagte Pia. »Ich durfte dir nur noch nichts sagen.«
    »O Gott. Wer erschießt denn einen alten Mann wie ihn?«
    »Das ist eine gute Frage, auf die wir auch keine Antworthaben«, erwiderte Pia. »Man hat uns die Ermittlungen in diesem Fall leider abgenommen. Goldbergs Sohn erschien am nächsten Tag mit Verstärkung aus dem amerikanischen Konsulat und aus dem Innenministerium und nahm die Leiche seines Vaters mit. Wir waren etwas erstaunt darüber.«
    »Na ja, das mag daran liegen, dass ihr euch nicht mit unseren Bestattungsriten auskennt«, sagte Miriam nach einer kurzen Pause. »Sal, Goldbergs Sohn, ist strenggläubig. Nach jüdischem Ritus soll der Tote möglichst noch am selben Tag bestattet werden.«
    »Aha.« Pia blickte Bodenstein an, der das Gespräch mit Ostermann beendet hatte, und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Wurde er denn schon beerdigt?«
    »Ja. Gleich am Montag. Auf dem jüdischen Friedhof in Frankfurt. Es wird allerdings nach Ablauf der Schiwa noch eine offizielle Trauerfeier geben.«
    »Shiva?«, fragte Pia verständnislos. Sie kannte dieses Wort nur als Namen einer hinduistischen Gottheit.
    »Schiwa ist hebräisch und bedeutet ›sieben‹«, erklärte Miriam. »Die ›Schiwa‹ ist die siebentägige Trauerperiode, die einem Begräbnis folgt. Sal Goldberg und seine Familie bleiben so lange in Frankfurt.«
    Plötzlich hatte Pia einen Einfall.
    »Wo bist du gerade?«, fragte sie die Freundin.
    »Zu Hause«, erwiderte Miriam. »Warum?«
    »Hättest du Zeit, dich mit mir zu treffen? Ich muss dir etwas erzählen.«
     
    Elard Kaltensee stand am Fenster im ersten Stock des großen Hauses und beobachtete, wie das Auto seines Bruders durch das Tor rauschte und vor der Haustür anhielt. Mit einem bitteren Lächeln wandte er sich vom Fenster ab. Vera setzte alles in Bewegung, um die Lage im Griff zu behalten, denn die Einschlägekamen näher, und er selbst war nicht ganz unschuldig daran. Zwar wusste er auch nicht, welche Bedeutung diese Zahl haben mochte, aber er hatte den Verdacht, dass seine Mutter sie kannte. Mit ihrem für sie völlig untypischen Weinkrampf hatte sie sich geschickt weiteren Fragen der Polizei entzogen, um sofort darauf die Zügel in die Hand zu nehmen. Kaum waren die Kripoleute verschwunden, hatte Vera Siegbert angerufen, und der hatte natürlich alles stehen und liegen lassen, um unverzüglich bei Mama anzutreten. Elard streifte die Schuhe von den Füßen, zog das Jackett aus und hängte es über den Herrendiener.
    Warum hatte ihn diese Polizistin, Kirchhoffs Frau, so eigen artig angesehen? Mit einem Seufzer setzte er sich auf die Bettkante, vergrub sein Gesicht in den Händen und versuchte, sich jedes Detail des Gesprächs in Erinnerung zu rufen. Hatte er irgendetwas Falsches gesagt, sich auffällig oder verdächtig benommen? Schöpfte die Polizistin Verdacht? Und wenn ja, weshalb? Er fühlte sich elend. Ein weiteres Auto fuhr unten vor. Natürlich, Vera hatte auch Jutta herbeizitiert. Dann würde es nicht mehr lange dauern, bis sie auch ihn nach unten bestellte, zum Familienrat. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er unvorsichtig gewesen war und einen riesengroßen Fehler begangen hatte. Der Gedanke an das, was passieren konnte, wenn sie es herausfanden, verursachte ihm Herzschmerzen. Aber es hatte keinen Sinn, sich zu verkriechen. Er musste so weiterleben wie immer und so tun,

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