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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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schriftlichen Berichten zufriedengeben würde, dazu kannte er sie viel zu gut. Sie war schon früher eine Perfektionistin mit ausgeprägtem Kontrollzwang gewesen, die genauestens informiert werden wollte und gerne Intrigen witterte.
    »Jemand, der über viel Einfluss an den richtigen Stellen verfügt, fürchtet, dass etwas ans Licht kommen könnte, was besser verborgen bleiben sollte.«
    »Und was kann das sein?«
    »Die Tatsache, dass Goldberg in Wirklichkeit kein jüdischer Überlebender des Holocaust war, sondern ein ehemaliges Mitglied der SS, was eine Blutgruppentätowierung an seinem Arm eindeutig beweist. Bevor sie uns die Leiche wegnehmen konnten, hatte ich eine Obduktion machen lassen.«
    Nicola Engel ließ seine Erläuterung unkommentiert. Sie ging um den Tisch herum und blieb an der Kopfseite stehen.
    »Hast du Cosima erzählt, dass ich deine Chefin werde?«, fragte sie in beiläufigem Tonfall. Bodenstein war von dem übergangslosen Themawechsel nicht überrascht. Er hatte damit gerechnet, früher oder später mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden.
    »Ja«, antwortete er.
    »Und? Was sagt sie?«
    Er fühlte sich für einen Moment versucht, ihr die wenigschmeichelhafte Wahrheit zu sagen, aber es wäre unklug, sich Nicola zur Feindin zu machen. Sie deutete sein Zögern falsch.
    »Du hast ihr überhaupt nichts gesagt«, erwiderte sie mit einem triumphierenden Blitzen in den Augen. »Das hätte ich mir denken können! Feigheit war schon immer deine große Schwäche. Du hast dich wirklich nicht verändert.«
    Die starken Emotionen hinter diesen Worten verblüfften und alarmierten ihn gleichermaßen. Die Zusammenarbeit mit Nicola Engel würde nicht einfach werden. Bevor er sie über ihre Fehleinschätzung aufklären konnte, erschien Ostermann in der Tür. Er warf Dr. Engel einen raschen Blick zu, aber als Bodenstein keine Anstalten machte, ihm die Frau vorzustellen, begnügte er sich mit einem höflichen Kopfnicken.
    »Es ist dringend«, sagte er zu Bodenstein.
    »Ich komme sofort«, erwiderte der.
    »Lassen Sie sich nicht aufhalten, Herr Bodenstein.« Nicola Engel lächelte zufrieden wie eine Katze. »Wir sehen uns ja sicher noch.«
     
    Die alte Frau war blutüberströmt und splitternackt. Man hatte sie an den Handgelenken gefesselt und ihr als Knebel einen Strumpf in den Mund gestopft.
    »Genickschuss«, erklärte der Notarzt, den die uniformierten Kollegen, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, verständigt hatten. »Der Tod ist ungefähr vor zehn Stunden eingetreten.«
    Er wies auf die nackten Beine der Frau.
    »Außerdem wurden ihr noch die Kniescheiben durch schossen.«
    »Danke.« Bodenstein verzog das Gesicht. Der Mörder von Goldberg und Schneider hatte ein drittes Mal zugeschlagen, daran gab es keinen Zweifel, denn er hatte die Zahl 16145mit dem Blut seines Opfers auf dessen nackten Rücken gemalt. Er hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, die Leiche zu vergraben; wahrscheinlich war es ihm wichtig, dass sie schnell gefunden wurde.
    »Diesmal hat er sein Opfer ins Freie gebracht.« Pia streifte sich Latexhandschuhe über, ging in die Hocke und betrachtete die Leiche eingehend. »Warum?«
    »Sie wohnte in der Seniorenresidenz Taunusblick «, mischte sich der Einsatzleiter der Schutzpolizei ein. »Sicher wollte er nicht riskieren, dass jemand die Schüsse hört.«
    »Woher wissen Sie das?«, fragte Pia überrascht.
    »Steht da drauf.« Er wies auf einen Rollstuhl, der ein paar Meter entfernt in einem Gebüsch stand. Bodenstein betrachtete die Leiche, die der Hund eines Spaziergängers gefunden hatte, und verspürte eine Mischung aus tiefem Mitgefühl und hilflosem Zorn. Was hatte die alte Frau in den letzten Minuten ihres langen Lebens durchgemacht, welche Angst und welche Demütigungen hatte sie ausstehen müssen! Der Gedanke, dass irgendwo ein Mörder herumlief, der zunehmend sadistischer agierte, war beunruhigend. Diesmal hatte er sogar riskiert, bemerkt zu werden. Wieder überkam Bodenstein das irritierende Gefühl der Machtlosigkeit. Er hatte keinen blassen Schimmer, wo er den Hebel ansetzen musste. Mittlerweile waren es vier Morde innerhalb einer Woche.
    »Sieht fast danach aus, als ob wir es mit einem Serientäter zu tun hätten«, sagte Pia in diesem Augenblick auch noch zu allem Überfluss. »Die Presse wird uns in Stücke reißen, wenn das so weitergeht.«
    Ein Polizeibeamter bückte sich unter dem Absperrband hindurch und nickte Bodenstein grüßend zu.
    »Es liegt keine

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