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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Vermisstenmeldung vor«, berichtete er. »Die Spusi ist unterwegs.«
    »Danke.« Bodenstein nickte. »Wir gehen hoch zu diesemAltersheim und fragen dort nach. Vielleicht haben sie nur noch nicht bemerkt, dass die Frau fehlt.«
     
    Wenig später betraten sie das großzügige Foyer, und Pia staunte nicht schlecht über den glänzenden Marmorboden und die bordeauxroten Teppichläufer. Das einzige Altersheim, das sie von innen kannte, war das Pflegeheim, in dem ihre Großmutter die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Sie erinnerte sich an Kunststoffböden, hölzerne Handläufe an den Wänden und den Geruch von Urin und Desinfektionsmitteln. Der Taunusblick hingegen wirkte wie ein Grandhotel mit dem langen Empfangstresen aus poliertem Mahagoniholz, dem üppigen Blumenschmuck überall, Hinweistafeln mit goldenen Lettern und leiser Hintergrundmusik. Die junge Empfangsdame strahlte sie freundlich an und erkundigte sich nach ihren Wünschen.
    »Wir möchten gerne mit dem Direktor sprechen«, sagte Bodenstein und präsentierte seine Kripo-Marke. Die junge Frau hörte auf zu lächeln und griff nach dem Telefon.
    »Ich werde Frau Kohlhaas sofort verständigen. Einen kleinen Moment bitte.«
    »Das hier bezahlt wohl keine Krankenkasse, oder?«, flüsterte Pia ihrem Chef zu. »Ist ja Wahnsinn!«
    »Der Taunusblick ist richtig teuer«, bestätigte Bodenstein. »Es gibt Leute, die sich schon zwanzig Jahre vor ihrem Einzug hier einkaufen. Eine Wohnung kostet locker dreitausend Euro im Monat.«
    Pia dachte an ihre Großmutter und verspürte ein schlechtes Gewissen. Das Pflegeheim, in dem sie nach einem arbeitsreichen Leben bei klarem Verstand ihre letzten drei Jahre zwischen Demenzkranken und Schwerstpflegefällen hatte verbringen müssen, war das Einzige gewesen, das sich die Familie hatte leisten können. Pia schämte sich, weil sieihre Oma so selten besucht hatte, aber der Anblick der alten Menschen in Bademänteln, die mit leerem Gesichtsausdruck verloren herumsaßen, hatte sie furchtbar deprimiert. Das lieblos zubereitete Essen, der Verlust der Individualität, die unzureichende Betreuung durch schlechtgelauntes und chronisch überarbeitetes Pflegepersonal, dem für persönliche Gespräche die Zeit fehlte – so sollte ein Leben nicht enden müssen. Die Leute, die sich einen Lebensabend im Taunusblick leisten konnten, waren wahrscheinlich ihr ganzes Leben schon privilegiert gewesen. Noch eine Ungerechtigkeit mehr.
    Bevor Pia etwas in dieser Art zu ihrem Chef äußern konnte, erschien die Direktorin in der Halle. Renate Kohlhaas war eine dürre Person Ende vierzig mit einer modernen eckigen Brille, elegantem Hosenanzug und angegrautem Bubikopf. Ihre Kleider verströmten den Geruch von Zigarettenrauch, ihr Lächeln wirkte nervös.
    »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie höflich.
    »Vor etwa einer Stunde hat ein Spaziergänger im Eichwald die Leiche einer älteren Dame gefunden«, erwiderte Bodenstein. »Ganz in der Nähe stand ein Rollstuhl des Taunusblicks . Wir möchten gerne wissen, ob es sich bei der Toten um eine Bewohnerin Ihres Hauses handeln könnte.«
    Pia bemerkte ein erschrockenes Aufflackern in den Augen der Direktorin.
    »Tatsächlich vermissen wir eine Bewohnerin«, gab sie nach kurzem Zögern zu. »Ich habe gerade die Polizei verständigt, nachdem wir das ganze Haus ergebnislos abgesucht haben.«
    »Wie ist der Name der vermissten Dame?«, erkundigte sich Pia.
    »Anita Frings. Was ist passiert?«
    »Wir gehen davon aus, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist«, sagte Bodenstein vage. »Könnten Sie uns bei der Identifizierung behilflich sein?«
    »Ich bedaure, aber ... « Die Direktorin schien zu merken, wie eigenartig ihre Ablehnung wirken musste, und brach ab. Ihr Blick huschte hin und her, sie wurde zunehmend nervöser.
    »Ah, Frau Multani! «, rief sie plötzlich mit deutlicher Erleichterung und winkte einer Frau, die gerade aus dem Aufzug trat. »Frau Multani ist unsere Hausdame und somit Ansprechpartnerin für alle Bewohnerinnen und Bewohner. Sie wird Ihnen weiterhelfen.«
    Pia entging nicht der scharfe Blick, mit dem die Direktorin ihre Untergebene bedachte, bevor sie mit klackenden Absätzen entschwand. Sie stellte sich und ihren Chef vor und reichte der Hausdame die Hand. Frau Multani war eine asiatische Schönheit mit glänzendem lackschwarzen Haar, schneeweißen Zähnen und besorgt blickenden samtigen Augen, die allein durch ihr Aussehen wohl sämtlichen männlichen Bewohnern

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