Tiefe Wunden
endlich beginnen. Marcus Nowak war guter Dinge, als er am frühen Abend sein Büro betrat. Es war immer ein aufregender Moment, wenn ein Projekt in die akute Bauphase kam und es richtig losging. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, schaltete den Computer ein und sah die Post des Tages durch. Zwischen all den Rechnungen, Angeboten, Werbesendungen und Katalogen steckte ein Briefumschlag aus Umweltpapier, der üblicherweise nichts Gutes verhieß.
Er riss den Umschlag auf, überflog den Inhalt und schnappte ungläubig nach Luft. Eine Ladung zur Kelkheimer Polizei! Man warf ihm gefährliche Körperverletzung vor. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Heißer Zorn kochte in ihm hoch, und in einem wütenden Impuls zerknüllte er den Brief und feuerte ihn in den Papierkorb. Gleichzeitig klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Tina! Sie hatte ihn sicherlichvom Küchenfenster aus ins Büro gehen sehen. Widerstrebend nahm er den Hörer ab. Wie erwartet musste er sich dafür rechtfertigen, dass er nicht mit ihr zum Open-Air-Konzert im Kelkheimer Schwimmbad gehen würde. Tina wollte einfach nicht akzeptieren, dass er keine Lust hatte. Sie war gekränkt, und noch während sie in einem weinerlichen Tonfall gebetsmühlenartig die üblichen Vorwürfe herunterspulte, meldete sich Marcus’ Handy mit einem Piepton.
»Das nächste Mal komme ich mit«, versprach er seiner Frau, ohne es zu meinen, und klappte sein Handy auf. »Wirklich. Sei nicht böse ...«
Als er die eingegangene Kurzmitteilung las, flog ein erfreutes Lächeln über sein Gesicht. Tina schimpfte und bettelte noch immer, während er mit dem Daumen der rechten Hand eine Antwort tippte.
Alles klar , schrieb er. Bin spätestens um 12 bei dir. Muss vorher noch was erledigen. Bis dann .
Die Vorfreude rieselte durch seinen Körper. Er würde es wieder tun, heute Nacht. Das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle, die ihn so sehr gequält hatten, waren kaum mehr als ein schwächer werdendes Echo irgendwo tief in seinem Innern.
Freitag, 4. Mai 2007
»Wir sollten die Polizei verständigen.« Die Hausdame Parveen Multani war ernsthaft besorgt. »Ihr muss etwas zu gestoßen sein. Alle ihre Medikamente sind da. Wirklich, Frau Kohlhaas, ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache.«
Sie hatte um halb acht morgens festgestellt, dass eine Bewohnerin fehlte, und es gab keine Erklärung dafür. Renate Kohlhaas, die Leiterin der vornehmen Seniorenresidenz Taunusblick , war verärgert. Ausgerechnet an einem Tag wie heute musste so etwas geschehen! Um elf Uhr wurde eine Abordnung der amerikanischen Betreiberfirma des Hauses zur Qualitätskontrolle erwartet. Sie dachte nicht im Traum daran, die Polizei zu rufen, denn sie wusste genau, welch verheerenden Eindruck das unbemerkte Verschwinden einer Bewohnerin aus ihrem Verantwortlichkeitsbereich auf die Geschäftsleitung machen würde.
»Ich kümmere mich darum«, sagte sie mit einem beruhigenden Lächeln zu der Hausdame. »Sie gehen an Ihre Arbeit und sprechen bitte vorerst mit niemandem über das Thema. Wir werden Frau Frings sicher schnell wiederfinden. «
»Aber sollten Sie nicht besser ... «, begann Parveen Multani, doch die Direktorin schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Ich nehme die Angelegenheit selbst in die Hand.« Sie geleitete die besorgte Hausdame zur Tür, setzte sich an ihrenComputer und rief das Stammblatt der verschwundenen Bewohnerin auf. Anita Frings lebte seit fast fünfzehn Jahren im Taunusblick . Sie war achtundachtzig und seit geraumer Zeit durch eine starke Arthritis mehr oder weniger an den Rollstuhl gefesselt. Zwar hatte sie keine Angehörigen, die Probleme machen konnten, aber alle Alarmglocken im Kopf der Direktorin begannen zu schrillen, als sie den Namen der Person las, die im Falle von Krankheit oder Tod benachrichtigt werden sollte. Ihr standen echte Probleme ins Haus, wenn die Oma nicht ganz bald wieder unversehrt in ihrer Wohnung im dritten Stock saß.
»Das hat ja noch gefehlt«, murmelte sie und griff zum Telefon. Ihr blieben noch knapp zwei Stunden Zeit, um Anita Frings zu finden. Die Polizei war in diesem Augenblick ganz sicher die falsche Wahl.
Bodenstein stand mit verschränkten Armen vor der großen Tafel im Besprechungsraum des K11. David Goldberg. Herrmann Schneider. Monika Krämer. Und trotz der Aufrufe im regionalen Rundfunk, zu denen er sich gestern entschlossen hatte, weiterhin keine Spur von Robert Watkowiak. Seine Augen folgten den Pfeilen und Kreisen, die
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