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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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des Seniorenstifts den Spätherbst des Lebens versüßte. In ihrem schlichten dunkelblauen Kostüm und der weißen Bluse wirkte sie wie eine Stewardess von Cathay Pacific.
    »Haben Sie Frau Frings gefunden?«, fragte sie in nahezu akzentfreiem Deutsch. »Wir vermissen sie seit heute früh.«
    »Ach ja? Weshalb haben Sie dann nicht die Polizei gerufen?«, wollte Pia wissen. Die Hausdame blickte sie verwirrt an, dann wandte sie sich in die Richtung, in die die Direktorin verschwunden war.
    »Aber ... Frau Kohlhaas sagte doch ... ich meine, sie wollte die Polizei gleich um halb acht verständigen.«
    »Das hat sie dann wohl vergessen. Offenbar hatte sie wichtigere Dinge zu erledigen.«
    Frau Multani zögerte, zeigte sich aber loyal.
    »Wir haben heute wichtigen Besuch von der Geschäftsführung im Haus«, versuchte sie das Verhalten ihrer Vorgesetzten zu entschuldigen. »Ich stehe Ihnen aber gerne zur Verfügung.«
     
    »O mein Gott.« Die Hausdame legte beim Anblick der Leiche entsetzt beide Hände vor Mund und Nase. »Ja, das ist Frau Frings. Wie furchtbar!«
    »Kommen Sie.« Bodenstein ergriff die schockierte Frau behutsam am Ellbogen und führte sie zurück auf den Waldweg. Der Einsatzleiter hatte also recht gehabt: Der Täter hatte den Mord im Wald begangen, weil in der Seniorenresidenz zu viele Leute die Schüsse hätten hören können. Bodenstein und Pia folgten Frau Multani zurück in den Taunusblick und fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock, in dem die Wohnung von Anita Frings lag. Sie versuchten nachzuvollziehen, wie der Mörder in diesem Fall vorgegangen war. Wie war es ihm gelungen, die gebrechliche alte Dame unbemerkt aus dem Gebäude zu bringen?
    »Gibt es hier irgendein Überwachungssystem?«, fragte Pia. »Kameras?«
    »Nein«, erwiderte Frau Multani nach kurzem Zögern. »Viele Bewohner hätten das zwar gerne, aber bisher hat die Verwaltung sich noch nicht dazu entschlossen.«
    Sie berichtete, dass am Abend zuvor im Taunusblick eine große Veranstaltung stattgefunden habe, eine Open-Air-Theateraufführung im Park des Hauses mit anschließendem Feuerwerk, zu der viele Gäste und Besucher von außerhalb gekommen waren.
    »Wann war das Feuerwerk?«, fragte Pia.
    »Etwa um Viertel nach elf«, erwiderte Frau Multani. Bodenstein und Pia wechselten einen Blick. Von der Zeit her passte es. Der Mörder hatte die Gelegenheit genutzt, die alte Dame im Schutze der Dunkelheit in den Wald zu bringen und dort während des Feuerwerks die drei Schüsse abzufeuern.
    »Wann ist Ihnen aufgefallen, dass Frau Frings verschwunden war?«, wollte Pia wissen. Frau Multani blieb vor einer Wohnungstür stehen.
    »Ich habe sie beim Frühstück vermisst«, sagte sie. »Frau Frings war immer eine der Ersten. Sie war zwar auf den Rollstuhl angewiesen, legte aber großen Wert auf Selbständigkeit. Ich habe bei ihr angerufen, und als sie nicht ans Telefon ging, habe ich nach ihr geschaut.«
    »Um wie viel Uhr war das ungefähr?«, wollte Pia wissen.
    »Wenn ich ehrlich bin, ich weiß es nicht mehr genau.« Die Hausdame war ganz grau im Gesicht. »Es muss ungefähr halb acht oder acht gewesen sein. Ich habe überall nachgesehen und dann die Direktorin informiert.«
    Pia warf einen Blick auf ihre Uhr. Jetzt war es elf. Gegen zehn war die Meldung über den Leichenfund eingegangen. Aber was war in den drei Stunden seit acht Uhr passiert? Es hatte keinen Sinn, Frau Multani deswegen zu befragen. Die Frau war vollkommen durcheinander. Sie schloss die Wohnung auf und ließ Bodenstein und Pia den Vortritt. Pia blieb in der Tür zum Wohnzimmer stehen und schaute sich um. Heller Teppichboden, ein Perserteppich in der Mitte, eine Plüschcouch mit Spitzenkissen, ein Fernsehsessel, ein wuchtiger Wohnzimmerschrank, eine Anrichte mit dekorativen Schnitzereien.
    »Hier stimmt etwas nicht«, ertönte hinter ihr die Stimme der Hausdame. Sie deutete auf die Anrichte. »Da standen immer Fotos, und auch die gerahmten Bilder an der Wand fehlen. Und im Bücherregal hatte sie ihre Fotoalben und Aktenordner. Die sind alle weg. Das gibt es doch nicht! Ich war heute Morgen noch hier, da war alles so wie immer.«
    Pia erinnerte sich daran, wie schnell man ihnen den Fall Goldberg aus der Hand genommen hatte. Wollte hier schon wieder jemand etwas vertuschen? Aber wer konnte so rasch vom Tod der alten Dame erfahren haben?
    »Warum, glauben Sie, hat die Direktorin nicht sofort die Polizei gerufen, nachdem sie vom Fehlen einer Bewohnerin unterrichtet wurde?«,

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