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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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was ich im Institut gestoßen bin und dass ich den Verdacht hätte, Goldberg habe seine Lebensgeschichteverändert. Sie hat mich ganz komisch angeguckt, ich dachte erst, sie wäre sauer auf mich, aber dann hat sie mich gefragt, weshalb ich in Goldbergs Vergangenheit herumstöbern würde. Ich hoffe, du bist nicht böse, dass ich das getan habe.«
    »Wenn’s was bringt, sicher nicht.« Pia klemmte das Handy zwischen Schulter und Kinn, um die Hand zum Schalten frei zu haben.
    »Also, Oma hat erzählt, dass sie und Sarah, Goldbergs Frau, zusammen in Berlin zur Schule gegangen sind. Sie waren sehr gute Freundinnen. Die Familie von Sarah ist 1936 nach Amerika ausgewandert, nachdem Sarah ein schlimmes Erlebnis mit drei betrunkenen Kerlen hatte. Oma sagte, dass Sarah überhaupt nicht jüdisch ausgesehen habe, sie war groß und blond, und alle Jungs waren verrückt nach ihr. An einem Abend waren sie im Kino, und auf dem Nachhauseweg ist Sarah von drei Typen angepöbelt worden. Es hätte böse ausgehen können, wenn nicht ein junger SS-Mann dazugekommen wäre. Er hat sie nach Hause gebracht, und Sarah hat ihm als Dank für die Rettung das Medaillon von ihrer Kette geschenkt. Sie hatte sich noch ein paarmal heimlich mit dem Mann getroffen, aber dann ging ihre Familie aus Berlin weg. Elf Jahre später hat sie dieses Medaillon wiedergesehen. An einem Juden namens David Josua Goldberg, der in der Bank ihres Vaters in New York vor ihr stand! Sarah hat ihren damaligen Retter sofort erkannt und wenig später geheiratet. Sie hat außer meiner Oma nie jemandem erzählt, dass sie über die wahre Identität ihres Mannes Bescheid wusste!«
    Pia hatte der Geschichte schweigend und mit wachsendem Unglauben gelauscht. Das war der endgültige Beweis für die große Lüge im Leben des David Goldberg, einer Lüge, die im Laufe der Jahrzehnte gigantische Dimensionen angenommen hatte.
    »Kann sich deine Oma noch an seinen richtigen Namen erinnern?«, fragte sie aufgeregt.
    »Nicht mehr genau«, sagte Miriam. »Otto oder Oskar, meint sie. Aber sie weiß noch, dass er auf der SS-Junkerschule in Bad Tölz und Angehöriger der Leibstandarte Adolf Hitlers gewesen ist. Ich bin mir sicher, dass man darüber etwas herausfinden kann.«
    »Mensch, Miri, du bist klasse.« Pia grinste. »Was hat deine Oma sonst noch erzählt?«
    »Sie hat Goldberg nie wirklich leiden können«, fuhr Miriam mit bebender Stimme fort. »Aber sie musste Sarah bei allem, was ihr heilig war, schwören, über alles zu schweigen. Sarah wollte nicht, dass ihre Söhne jemals von der Vergangenheit ihres Vaters erfahren.«
    »Aber offenbar wussten sie es«, sagte Pia. »Wie lässt es sich sonst erklären, dass sein Sohn schon einen Tag später mit solcher Verstärkung hier aufmarschiert ist?«
    »Vielleicht doch mit religiösen Gründen«, vermutete Miriam. »Oder damit, dass Goldberg wirklich allerbeste Verbindungen hatte. Oma kann sich erinnern, dass er mehrere Pässe besessen hatte und selbst während der kältesten Phase des Kalten Krieges völlig ungehindert in den Ostblock reisen konnte.«
    Sie machte eine Pause.
    »Weißt du, was mich an der ganzen Sache wirklich schockiert? «, fragte sie, beantwortete ihre Frage aber sofort selbst. »Nicht etwa, dass er kein Jude und früher Nazi war. Wer weiß, wie ich selbst in seiner Situation gehandelt hätte. Überlebenswille ist menschlich. Was mich echt erschüttert, ist, dass man sechzig Jahre lang mit einer solchen Lüge durchkommen kann ...«
    Bis man bei Henning Kirchhoff auf dem Tisch landet, dachte Pia, sagte es aber nicht laut.
    »... und dass es nur noch einen einzigen Menschen auf der ganzen Welt gibt, der die Wahrheit kannte.«
    Daran zweifelte Pia allerdings. Es gab mindestens noch zwei Menschen, die diese Wahrheit kannten. Nämlich den Mörder von Goldberg, Schneider und Anita Frings und denjenigen, der verhindern wollte, dass alles ans Licht kam.
     
    Thomas Ritter zog an seiner Zigarette und warf missmutig einen Blick auf die Uhr. Viertel nach zwölf. Katharina hatte ihn angerufen und gesagt, er solle um elf in Königstein auf dem Parkplatz vor dem Luxemburgischen Schloss sein. Jemand werde kommen und ihm etwas geben. Er war pünktlich gewesen und wartete nun seit einer geschlagenen Stunde mit zunehmender Verärgerung. Ritter wusste selbst um die Schwächen des Manuskripts, aber es verletzte ihn, dass Katharina seine Arbeit als Larifari bezeichnet hatte. Keine skandalösen Enthüllungen, keine Bestsellerqualität.

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