Tiefe Wunden
Angehörige«, erwiderte die Direktorin mit deutlichem Unbehagen. »Ich hoffe, Sie wollen Frau Multani nichts unterstellen. Sie war immerhin die Einzige, die wusste, dass Frau Frings verschwunden war.«
»Sie wussten es auch«, entgegnete Pia ungerührt. Renate Kohlhaas wurde erst rot, dann blass.
»Das habe ich jetzt nicht gehört«, sagte sie kühl. »Bitte entschuldigen Sie mich. Ich muss mich um meinen Besuch kümmern.«
In der Wohnung von Anita Frings fand sich nicht mehr der kleinste Hinweis auf die Frau, die die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens in diesen vier Wänden verbracht hatte – kein Foto, kein Brief, kein Tagebuch. Bodenstein und Pia konnten sich keinen Reim darauf machen. Wer hatte ein Interesse an den Hinterlassenschaften einer Achtundachtzigjährigen?
»Wir sollten davon ausgehen, dass Frau Frings Goldberg und Schneider gekannt hat«, sagte Bodenstein. »Diese Zahl hat eine Bedeutung, die wir nur noch nicht verstehen. Und es ist anzunehmen, dass sie auch Vera Kaltensee kannte.«
»Wieso hat die Direktorin erst so spät die Polizei angerufen, wenn Anita Frings doch schon seit dem Morgen vermisst wurde?«, überlegte Pia laut. »Sie benimmt sich irgendwie komisch, und ich glaube nicht, dass das nur mit dem wichtigen Besuch zu tun hat.«
»Welches Interesse sollte sie am Tod von Frau Frings haben?«
»Ein großzügiges Erbe zugunsten des Hauses?«, mutmaßte Pia. »Vielleicht hat sie die Wohnung ausräumen lassen, damit man keinen Hinweis auf mögliche Erben findet.«
»Aber da konnte sie doch noch gar nicht wissen, ob Frau Frings tatsächlich tot war«, widersprach Bodenstein.
Sie gingen zum Büro der Direktorin. Im Vorzimmer thronte eine kleine Dicke weit jenseits der fünfzig. Mit der blondierten und mit Haarspray festbetonierten Fönwelle sah sie aus wie eine der fröhlichen Jacob Sisters, entpuppte sich aber als wahrer Zerberus.
»Ich bedaure«, sagte sie würdevoll. »Die Direktorin ist nicht am Platz, und ich darf Ihnen keine Informationen über eine Bewohnerin geben.«
»Dann rufen Sie Frau Kohlhaas an und lassen sich eine Erlaubnis geben!«, fuhr Pia sie brüsk an. Ihre Geduld war erschöpft. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«
Die Sekretärin musterte Pia unbeeindruckt über den Rand ihrer Halbbrille, an der eine altmodische Goldkette befestigt war.
»Wir haben Besuch aus der Hauptverwaltung«, entgegnete sie kühl. »Frau Kohlhaas ist irgendwo im Gebäude unterwegs. Ich kann sie nicht erreichen.«
»Wann wird sie zurück sein?«
»Etwa gegen fünfzehn Uhr.« Die Sekretärin blieb unnachgiebig. Bodenstein intervenierte mit einem gewinnenden Lächeln.
»Ich weiß, dass wir ungelegen kommen, gerade wenn so wichtiger Besuch im Hause ist«, umschmeichelte er den Vorzimmerdrachen. »Aber eine Bewohnerin ist gestern Nacht entführt und brutal ermordet worden. Wir brauchen eine Adresse oder Telefonnummer der Angehörigen, um sie zu informieren. Wenn Sie uns weiterhelfen, müssen wir Frau Kohlhaas gar nicht weiter belästigen.«
Bodensteins Höflichkeit hatte Erfolg, wo Pias schroffe Art versagt hatte. Der alte Haudegen wurde wachsweich.
»Ich kann Ihnen alle notwendigen Angaben aus der Akte von Frau Frings heraussuchen«, flötete sie.
»Das wäre uns eine große Hilfe.« Bodenstein zwinkerte ihr zu. »Und wenn Sie dann noch ein aktuelles Foto von Frau Frings hätten, sind Sie uns sofort los.«
»Schleimer«, murmelte Pia, und Bodenstein grinste verstohlen. Die Sekretärin klapperte auf der Tastatur ihres Computers herum, und Sekunden später schossen zwei Blätter aus dem Laserdrucker.
»Bitte sehr.« Sie strahlte Bodenstein an und reichte ihm eines der Blätter. »Das dürfte Ihnen weiterhelfen.«
»Was ist mit dem zweiten Blatt?«, fragte Pia.
»Das sind interne Informationen«, sagte die Sekretärin hoheitsvoll. Als Pia die Hand ausstreckte, vollführte sie mitihrem Stuhl eine elegante Drehung nach links und ließ das Blatt mit einem gezierten Lächeln durch einen Reißwolf. »Ich habe meine Anweisungen.«
»Und ich habe in einer Stunde einen Durchsuchungsbeschluss«, sagte Pia mit aufflammendem Zorn. Vielleicht war es doch nicht so erstrebenswert, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte, seinen Lebensabend in diesem Seniorenstift zu verbringen.
»Die Sachen sind auf dem Weg«, verkündete Elard. »Um kurz nach zwölf vor dem alten Haus deiner Eltern. Ist das in Ordnung?«
Katharina warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Ja, wunderbar. Vielen
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