Tiefe Wunden
Wetterau und zog mit seinem Stab in den Bunker unter der Reichskanzlei, den er nicht mehr verlassen sollte.«
Er machte eine nachdenkliche Pause.
»Im Januar 1945 sind meine Mutter und ich aus Ostpreußen geflüchtet. Ob es genau der Sechzehnte war, weiß ich nicht.«
»Können Sie sich daran erinnern?«
»Nur sehr vage. Es sind keine bildhaften Erinnerungen,dafür war ich wohl zu jung. Manchmal denke ich, dass das, was ich für eine Erinnerung halte, im Laufe der Jahre in meinem Kopf durch Filme und Fernsehberichte entstanden ist.«
»Wie alt waren Sie damals, wenn ich das fragen darf?«
»Sie dürfen.« Kaltensee drehte das nunmehr leere Glas in den Händen. »Ich bin am 23. August 1943 geboren.«
»Dann können Sie sich wohl kaum an irgendetwas erinnern«, entgegnete Bodenstein. »Sie waren nicht einmal zwei Jahre alt.«
»Eigenartig, nicht wahr? Allerdings war ich inzwischen mehrere Male in meiner alten Heimat. Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein.«
Bodenstein überlegte, ob Elard Kaltensee von Goldbergs Geheimnis wusste. Er konnte den Mann nur schwer einschätzen. Plötzlich fiel ihm etwas ein.
»Kannten Sie eigentlich Ihren leiblichen Vater?«, fragte er, und ihm entging nicht das Erstaunen, das kurz in Kaltensees Augen aufblitzte.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Sie können nicht der Sohn von Eugen Kaltensee sein.«
»Stimmt. Meine Mutter hat es allerdings nie für nötig befunden, mir die Identität meines Erzeugers mitzuteilen. Ich wurde von meinem Stiefvater adoptiert, als ich fünf Jahre alt war.«
»Wie hießen Sie bis dahin?«
»Zeydlitz-Lauenburg. Wie meine Mutter. Sie war nicht verheiratet.«
Irgendwo im Haus verkündete eine Uhr mit sieben melodiösen Schlägen die Stunde.
»Könnte Goldberg Ihr Vater gewesen sein?«, wollte Bodenstein wissen. Kaltensee verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln.
»Um Gottes willen! Allein die Vorstellung wäre für mich schrecklich.«
»Warum das?«
Elard Kaltensee wandte sich zum Sideboard und schenkte sich einen weiteren Cognac ein.
»Goldberg konnte mich nicht leiden«, erklärte er dann. »Und ich ihn auch nicht.«
Bodenstein wartete darauf, dass er weitersprach, aber das tat er nicht.
»Woher kannte Ihre Mutter ihn?«, fragte er dann.
»Er stammte wohl aus dem Nachbarort; er machte zusammen mit dem Bruder meiner Mutter, nach dem ich benannt wurde, Abitur.«
»Eigenartig«, sagte Bodenstein. »Dann müsste Ihre Mutter es doch eigentlich gewusst haben.«
»Was meinen Sie?«
»Dass Goldberg in Wirklichkeit kein Jude war.«
»Wie bitte?« Kaltensees Verblüffung schien echt.
»Bei der Obduktion wurde eine Blutgruppentätowierung an seinem linken Oberarm gefunden, wie sie nur Angehörige der SS hatten.«
Kaltensee starrte Bodenstein an, an seiner Schläfe pochte eine Ader.
»Umso schlimmer, wenn er mein Vater gewesen wäre«, sagte er ohne die Spur eines Lächelns.
»Wir nehmen an, dass uns die weiteren Ermittlungen im Fall Goldberg aus diesem Grunde entzogen wurden«, fuhr Bodenstein fort. »Jemand hat Interesse daran, dass Goldbergs wahre Identität geheim bleibt. Aber wer?«
Elard Kaltensee antwortete nicht. Die Schatten unter seinen geröteten Augen schienen sich vertieft zu haben, er sah richtiggehend schlecht aus. Schwer ließ er sich in einen der Sessel sinken und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
»Glauben Sie, Ihre Mutter kannte Goldbergs Geheimnis?« Kaltensee sann einen Augenblick über diese Möglichkeit nach.
»Wer weiß«, sagte er dann bitter. »Eine Frau, die ihrem Sohn nicht verrät, wer sein leiblicher Vater ist, ist durchaus in der Lage, der ganzen Welt sechzig Jahre lang Theater vorzuspielen.«
Elard Kaltensee mochte seine Mutter nicht. Aber aus welchem Grund lebte er dann mit ihr unter einem Dach? Hegte er die Hoffnung, sie werde ihm doch noch eines Tages seine wahre Herkunft enthüllen? Oder steckte mehr dahinter? Nur wenn ja: was?
»Schneider war früher auch bei der SS «, sagte Bodenstein. »Der Keller seines Hauses ist ein richtiges Nazi-Museum. Er hatte ebenfalls diese Tätowierung.«
Elard Kaltensee starrte stumm vor sich hin, und Bodenstein hätte sehr viel mehr als nur einen Penny dafür gegeben, seine Gedanken lesen zu können.
Pia breitete die Papierwolle aus dem Reißwolf des Sekretariats auf dem Küchentisch aus und machte sich an die Arbeit. Akribisch glättete sie einen schmalen Papierstreifen nach dem anderen, legte sie nebeneinander, aber die verfluchte Wolle
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