Tiefe Wunden
Verdammt! Zwar hatte Katharina versprochen, ihm neues Material zu besorgen, aber er konnte sich nicht vorstellen, was sie so plötzlich noch aus dem Hut zaubern wollte. Hatte sie Beweise, dass der tödliche Unfall von Eugen Kaltensee doch ein Mord gewesen war? Auf jeden Fall hatte Katharinas Vertriebschef eine Erstauflage von hundertfünfzigtausend Exemplaren in Aussicht gestellt, die Marketingleute des Verlages planten eine Strategie, vereinbarten Interviewtermine mit den größten deutschen Zeitschriften und verhandelten mit der BILD-Zeitung über einen exklusiven Vorabdruck. Das alles setzte Ritter enorm unter Druck.
Er schnippte die Zigarette aus dem geöffneten Fenster zu den anderen Kippen, die er schon geraucht hatte, und begegnete dem strafenden Blick einer Oma, die ihren alters schwachen Pudel hinter sich herschleifte. Ein orangefarbener Mercedes-Pritschenwagen bog auf den Parkplatz ein undhielt an. Der Fahrer stieg aus und blickte sich suchend um. Erstaunt erkannte Ritter Marcus Nowak, den Restaurator, der vor zwei Jahren die alte Mühle auf dem Kaltensee’schen Mühlenhof wieder auf Vordermann gebracht hatte und zum Dank dafür aufs Übelste verleumdet und ausgetrickst worden war. Nicht zuletzt durch ihn war es schließlich zu dem Zerwürfnis mit Vera gekommen, das Ritters Existenz von einem Tag auf den anderen vollkommen ruiniert und ihn selbst zu einem Geächteten gemacht hatte. Nowak hatte ihn nun auch erblickt und kam auf ihn zu.
»Hallo«, sagte er und blieb neben Ritters Auto stehen.
»Was wollen Sie?« Ritter musterte ihn misstrauisch und machte keine Anstalten auszusteigen. Er hatte keine Lust, von Nowak erneut in irgendetwas hineingezogen zu werden.
»Ich soll Ihnen was geben«, erwiderte Nowak sichtlich nervös. »Außerdem kenne ich jemanden, der Ihnen mehr über Vera Kaltensee erzählen kann. Fahren Sie hinter mir her.«
Ritter zögerte. Er wusste, dass Nowak ebenso wie er ein Opfer der Familie Kaltensee war, trotzdem traute er ihm nicht. Was hatte der Mann mit den Informationen zu tun, die Katharina ihm versprochen hatte? Er durfte sich keine Fehler erlauben, schon gar nicht jetzt während dieser hochsensiblen letzten Phase seines Plans. Dennoch war er neugierig. Er atmete tief durch und bemerkte, dass seine Hände zitterten. Egal, er brauchte dieses Material, von dem Katharina behauptet hatte, es sei sensationell. Marleen käme erst in ein paar Stunden nach Hause, und er hatte nichts Besseres zu tun, da konnte ein Gespräch mit diesem Jemand, den Nowak kannte, nicht schaden.
Bodensteins Schwägerin Marie-Louise kniff die Augen zusammen und betrachtete das undeutliche Schwarzweißfoto,das ihm die Sekretärin von Direktorin Kohlhaas überlassen hatte.
»Wer soll das sein?«, erkundigte sie sich.
»Kann es sein, dass diese Frau am vergangenen Samstag auf der Geburtstagsfeier von Vera Kaltensee gewesen ist?«, fragte Bodenstein. Pia hatte ihn auf die Idee gebracht, sich an das Personal des Schlosshotels zu wenden. Sie war fest davon überzeugt, dass der Mörder nicht wahllos tötete und es eine Verbindung zwischen Anita Frings und Vera Kaltensee gab.
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Marie-Louise. »Wie so musst du das wissen?«
»Die Frau wurde heute Morgen tot aufgefunden.« Seine Schwägerin würde ohnehin nicht lockerlassen, bis sie erfahren hatte, worum es ging.
»Dann kann es wohl kaum etwas mit unserem Essen zu tun gehabt haben.«
»Ganz sicher nicht. Also, was meinst du?«
Marie-Louise begutachtete nochmals das Foto und zuckte die Schultern.
»Wenn du erlaubst, frage ich mal das Servicepersonal«, sagte sie. »Komm mit. Willst du eine Kleinigkeit essen?«
Dieses verlockende Angebot konnte Bodenstein, der, was das Essen betraf, unter regelmäßig wiederkehrenden Anfällen erschreckender Disziplinlosigkeit litt, unmöglich ausschlagen. Er folgte der Schwägerin bereitwillig in die großzügige Restaurantküche, in der schon rege Betriebsamkeit herrschte. Um die ausgefallenen kulinarischen Kreationen von Maître Jean-Yves St. Clair vorzubereiten, bedurfte es mehrerer Stunden täglich, aber das Ergebnis war jedes Mal sensationell.
»Hallo, Papa.« Rosalie stand für Bodensteins Geschmack etwas zu dicht und mit etwas zu roten Wangen neben dem großen Meister, der sich nicht zu schade war, selbst das Gemüse zu schnippeln. St. Clair blickte auf und grinste.
»Ah, Olivier! Kontrolliert die Kriminalpolizei jetzt schon die Gastronomie?«
Eher fünfunddreißigjährige
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