Tiefer - Im Sog der Lust (German Edition)
dazu kam. Vielleicht wollte er sie auch nicht mehr nackt sehen.
Die Abschlusszeremonie an der Schule zog sich länger hin, als nötig gewesen wäre, aber die Jahre, in denen sie Schulaufführungen und Konzerte besucht hatte, hatten Bess darauf vorbereitet. Robbie saß zwischen ihr und Andy, und anstatt bei jedem neuen ans Pult tretenden Sprecher zu seufzen, saugte Bess jeden einzelnen Moment auf wie ein Schwamm. Es war sehr wahrscheinlich das letzte Mal, dass sie alle so zusammen waren. Als Familie.
Niemandem schien aufzufallen, dass Bess sich in ihrem eigenen Garten fehl am Platz fühlte. Ohne ihr Wissen hatte Andy einen Cateringservice engagiert, der die Hotdogs und Hamburger zubereitete und sich um das Servieren und Aufräumen kümmerte. Bess versuchte sich einzureden, dass er einfach nur rücksichtsvoll gewesen war, aber ohne die üblichen Aufgaben wie Geschirrspülmaschine einräumen und Essen herantragen, wusste sie nichts mit sich anzufangen.
Sie hatten so viele Einladungen verschickt, dass sie den Überblick verloren hatten, wie viele Leute wohl kommen würden. Immer mehr Gäste strömten in den Garten, sprangen in den Pool und schwappten in die Küche. Trotzdem fühlte Bess sich nicht überwältigt. Auch das hier war das letzte Mal, dass sie alle so zusammen sein würden. Nach dem heutigen Tag würden sich die Dinge ändern.
Bess hatte noch nie gut mit Veränderungen umgehen können. War nie gut darin gewesen, Risiken einzugehen oder sich voller Vertrauen in neue Situationen zu stürzen. Wenn etwas funktionierte, dann blieb sie gerne dabei.
Und auch wenn es nicht mehr funktionierte.
„Hey Bess!“ Ben, ihr Großcousin väterlicherseits, winkte ihr vom Tisch mit dem Kuchen zu. „Tolle Party! Meine Mom und mein Dad sind da drüben!“
Er zeigte in die Richtung, und Bess winkte. Die Beziehungen zwischen einzelnen Zweigen der Familie waren ein wenig angespannt, seitdem die Großeltern entschieden hatten, was mit dem Strandhaus passieren sollte, aber ihre Cousine Danielle und deren Familie gehörten zum Glück nicht dazu.
„Ihr müsst uns diesen Sommer mal besuchen kommen“, sagte sie zu Ben. „So wie früher.“
Er lachte; er war inzwischen ein großer, breitschultriger Mann, der ihrem Großvater sehr ähnlich sah. Sie erinnerte sich noch an ihn als kleinen Jungen mit Schokolade auf den Wangen. „Wenn ich es irgendwie schaffen sollte, mir mal ein paar Tage freizunehmen, gerne. Danke.“
Bess winkte ihm noch einmal zu, dann schlängelte er sich mit seinem Kuchenteller durch die Menge. Ganz automatisch überprüfte Bess, ob sie noch mehr Kuchen schneiden musste, aber der Caterer kümmerte sich bereits darum. Genau wie um die Servietten und das Plastikgeschirr.
„Nun schau nicht so besorgt. Alle haben Spaß.“
Bess drehte sich um. Als sie das vertraute Gesicht erkannte, lächelte sie strahlend. „Joe!“
Der Mann neben ihr hätte dem Titelbild eines Modemagazins für Männer entstiegen sein können. Und im Vergleich mit dem Rest der Gäste hätte er overdressed wirken müssen, aber irgendetwas an seiner Kleidung passte so perfekt zu ihm, dass Bess ihn sich einfach nicht in Jeansshorts und einem bedruckten T-Shirt vorstellen konnte. Joe und Andy hatten zusammen gearbeitet, bevor Bess und Andy geheiratet hatten. Zwar waren sie dann in unterschiedlichen Kanzleien gelandet, aber ihre Freundschaft hatte gehalten. Joe war ein regelmäßiger Gast auf allen großen Familienfeiern, wie der Taufe der Jungs und ihren Geburtstagen, und so war es keine große Überraschung, ihn heute hier zu sehen. Dennoch glitzerten Tränen in Bess’ Augen, als sie ihn nun ansah.
„Der kleine Connor ist jetzt erwachsen“, stellte Joe verwundert fest. „Ich sehe, dass er dich um Längen überragt und einen ganzen Harem kichernder Mädchen zur Verfügung hat.“
„Ja, so ist Connor.“ Bess lachte, und mit diesem Lachen verschwand ein wenig von ihrer Melancholie. Joe grinste. Sein Blick glitt an Bess vorbei zu einer Frau, die am Pool stand. Bess beobachtete ihn lächelnd. „Wie bekommt dir das Leben als Ehemann?“
Joes Lächeln wurde breiter. „Ich kann mich nicht beschweren.“
„Du Glücklicher.“ Bess hielt automatisch nach Andy Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken.
Joe schaute sie intensiv an. „Hey, Bess, wegen …“
Sie hob eine Hand. „Pst. Das ist nicht dein Problem.“
Joe runzelte die Stirn. „Ja, ich weiß, aber …“
„Ich sagte pst“, wiederholte Bess. „Du bist Andys Freund.
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