Tiefer Schmerz
Sie weigern sich, den Namen zu nennen, und sie verlangen, daß wir einen Mann hinunterschicken.«
»Hinunterschicken?« sagte Chavez. »Haben die noch nie was vom Internet gehört?«
»Wohl nur mit Mühe und Not, würde ich meinen«, sagte Hultin und nahm den Hörer ab.
»Aber du hast doch wohl nicht vor, einen zu schicken?«
»Doch«, sagte Hultin und wählte eine sehr lange Nummer. »Wir haben doch schon einen Europareisenden. Arto kann Anfang der Woche hinfahren.«
»Aber wohin denn?« sagte Paul Hjelm. »Woher kommt unser Nasenmann?«
»Das ist der Grund, warum ich mich füge, ohne zu murren«, sagte Jan-Olov Hultin und sah auf. »Shtayf kam aus Odessa. In der Ukraine.«
30
Es war Samstagabend in der Toskana. Familie Söderstedt saß auf der Veranda, während die Sonne langsam über die Hügel herabsank. Errötende Sonnenstrahlen pinselten die Weinberge goldstreifig. Ein Hauch von siebzehn verschiedenen Sorten Basilikum wehte vom Kräuterbeet herüber, und die anhaltende Tageswärme ließ die Abendluft in der Dämmerung leicht erzittern. Die letzten Reste von Anjas fabelhaftem Spezialpesto, das auf dem Neuzugang eines butterblauen Rosenzweigbasilikums basierte, rutschten gerade durch die Kehle, perfekt vermischt mit einem vollmundigen Brunello.
Und alles – ganz genau alles – war sehr gut.
Arto Söderstedt blickte in die Runde. Zwischen all den kreideweißen Köpfen war ein schwarzer. Er gehörte einem siebzehnjährigen Weinbauernsohn namens Giorgio. Er war es, der seiner ältesten Tochter die Unschuld geraubt hatte. Mikaela hatte ihn eines Tages mitgebracht und vorgestellt. Arto fand das großartig. Ihm wurde etwas verehrt, ihm wurde tatsächlich gedankt dafür, daß er sie überzeugt hatte, sich nicht schämen zu müssen. Hoffentlich würde die Einsicht sie durchs Leben begleiten.
Schämen muß man sich nur, wenn man einem anderen etwas Böses antut.
Nur dann.
Giorgio war ein sehr schüchterner Junge, der in der Überzeugung lebte, daß der Vater des geliebten Mädchens per definitionem rasend war. Daß es seine Pflicht war, rasend zu sein. Aber auch Giorgios eigener Vater schien nicht besonders rasend zu sein. Söderstedts luden den Weinbauern und seine Frau eines Abends ein. Beide machten einen nervösen Eindruck, als stünden sie vor Gericht.
Dies also war das Ehepaar, dessen Tochter ihr nichtsnutziger Sohn entjungfert hatte. Die Eheleute Söderstedt hatten ihren gesamten Charme aufgeboten, um sie zu überzeugen, daß alles in Ordnung war, und ganz langsam hatte sich das Weinbauernpaar entspannt. Es endete damit, daß alle einander in Lobpreisungen der Liebe und des Weins und des Lebens übertrafen.
Jemand hier am Tisch ist schwanger.
Pang – machte es, als ihm die Einsicht kam.
Es war etwas mit der Stimmung. Diese spezifisch weibliche, völlig lautlose Telepathie schickte ihre Wellen quer über den Tisch. Er kannte es von früher. Fünfmal, um genau zu sein. Er gehörte praktisch zu den Experten.
Zuerst ging sein Blick hinüber zu Linda, der Zweitältesten Tochter. Sie war vierzehn. Das kam ihm ziemlich ungefährlich vor. Und das war es auch. Sie verschlang Pasta, warf verstohlene Blicke in die Runde und war genau wie immer. Vor allem unglaublich neugierig auf Giorgio. Mit einem kleinen Lächeln fragte er sich, was wohl in ihren Gedanken ablief. Wo sie auf Widerstand stießen.
Dann kam der kritische Augenblick. Er faßte sich ein Herz und wandte sich Mikaela zu. Sie leuchtete. Doch es war das Leuchten der Liebe und nichts anderes, davon war er ziemlich überzeugt.
Jaha, dachte er und atmete auf. Ich habe mich geirrt. Ich dachte schon, ich würde nie mehr Kinder aus dem Tagesheim abholen. Aber von wegen.
Ich werde in ein paar Jahren einen Nachzügler aus dem Tagesheim abholen.
Er wandte sich Anja zu, die ihr Butterblaurosenzweigbasilikumpesto auf der Zunge zergehen ließ. Sie schimmerte.
Ja, es war ein Unterschied zwischen Leuchten und Schimmern. Ein gewaltiger Unterschied.
»Also du sitzt da und bist schwanger?« sagte er und nahm noch einen Schluck Wein.
Anja verschluckte sich am Pesto. Er mußte aufstehen, um sie herumgehen und das gute alte Heimlich -Manöver durchführen. Er faßte sie unterhalb der Brust und drückte zu. Ein ordentlicher Klumpen Pesto landete mitten auf dem Tisch. Giorgio verzog angeekelt das Gesicht. Mikaela wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte noch nicht richtig ausgelernt.
Anja wischte sich die Tränen mit einer Serviette ab, mit
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