Tiefer Schmerz
der sie anschließend die Pestoreste vom Tisch wischte. Ihre Miene war vollkommen ausdruckslos. Dann saß sie da und starrte über die Dämmerungslandschaft hinaus in die Ferne. Arto setzte sich auch. Er beobachtete sie, um zu sehen, ob die telepathischen Wellen wiederkamen.
Giorgio betrachtete unschlüssig seine halb gegessene Portion Pesto.
»You don’t have to eat it«, sagte Anja, ohne den Blick von der Unendlichkeit abzuwenden.
Die Wellen waren abwesend, als Mikaela und Giorgio sich davonstahlen, um in intimem Tonfall die Erwachsenenwelt zu schmähen, sie waren abwesend, als Linda und Peter davonglitten, um in der zunehmenden Dunkelheit herumzuschleichen und sich gegenseitig zu Tode zu erschrecken, sie waren abwesend, als Stefan Klein-Linas Hand faßte und mit ihr davontappte, um italienisches Kinderfernsehen zu gucken.
Aber als die Eheleute allein auf der Veranda zurückblieben, als die Zikaden sich ins Zeug legten, daß es um ihre Beine Funken sprühte, da kamen die telepathischen Wellen wieder. Anjas Blick kehrte aus der Ferne zurück und begegnete seinem unverwandt bohrenden. Ein paar Sekunden saß sie da und beobachtete ihren eigentümlichen Ehemann. Dann schüttelte sie rasch den Kopf, lächelte kurz und verschwand.
Keine Frage, es würde einen Nachzügler geben.
Er ging hinüber zu seiner Ecke der Veranda und schalte te den Computer ein. Der rasselte und röchelte. Arto Söderstedt lebte in ständiger Furcht davor, sein Computer könnte einem Informationsschlag erliegen und ganz einfach den Geist aufgeben. All diese CD-Roms, die eingegeben wurden, all die Informationen, die über die Festplatte verstreut waren – wo verlief eigentlich die Grenze des ihr Zumutbaren?
Arto Söderstedt holte den Grundriß des Palazzo Riguar do hervor, den Kommissar Marconi ihm nur widerwillig überlassen hatte. Dazu hatte ihm der gute Kommissar – allerdings noch widerstrebender – alle kritischen Punkte des vierunddreißig Zimmer zählenden Gebäudes gezeigt. Zum Abschluß hatte er sich, die Hände an den Hüften, vor ihm aufgebaut und mit fordernder Stimme gesagt: »Ich sollte aber schon wissen, wofür sie dies brauchen, Signor Sadestatt.«
Signor Sadestatt erwiderte: »Welcher ist der beste Weg hinein?«
Signor Marconi war fassungslos. Alles andere wäre undenkbar gewesen.
Söderstedt verdeutlichte: »Nicht für mich, für die Erinnyen.«
Marconi beobachtete ihn. Sein Blick war starr.
»Man kommt nicht anders an ihn heran als in seinem Haus«, fuhr Söderstedt fort. »Er hat seinen Palast seit – was haben Sie gesagt? – einem Jahr nicht verlassen?«
Marconi nickte, doch nicht gleichgültig.
»Also muß man in den Palazzo Riguardo, um an ihn heranzukommen.«
»Und Sie sind wirklich sicher, daß diese … Erinnyen hinter ihm her sind?«
»Ich bin mir dessen immer sicherer, ja.«
»Warum?«
»Weil dies mit den Vielfraßen so wunderbar deutlich war. Weil es irgendeine direkte Verbindung zwischen Leo nard Sheinkman in Stockholm und Marco di Spinelli in Mailand gibt. Weil die Kombination Vielfraß/Greis direkt auf den Palazzo Riguardo hinweist. Weil di Spinelli die Spinne im Netz ist. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Von ihm gehen alle Fäden aus. Er selbst hat das Netz gesponnen, in dem er sich verfangen wird. Er hat die Gestalten, die ihn verzehren werden, selbst geschaffen.«
»Das klingt ziemlich überzeugend«, sagte Marconi aufmunternd, um gleich danach Eiswasser über den kochenden Finnlandschweden zu gießen: »Aber gibt es wirklich eine einzige greifbare Verbindung zwischen Sheinkman und di Spinelli?«
»Er kannte ihn.«
»Das sagen Sie, ja. All dies beruht auf einer Rückenmarksreaktion bei Ihnen. Außerdem müßte doch in diesem Fall Sheinkman das Opfer sein und di Spinelli der Henker. Warum sowohl das Opfer als auch den Henker ermorden?«
»Nichts sagt uns, daß di Spinelli der Henker ist. Sie sind vielleicht Brüder im Unglück.«
»Marco di Spinelli als Lagerinsasse in Buchenwald? Sie machen Scherze.«
»Ihre Äußerung, Signor Marconi, deutet an, daß Sie gegenteiliger Ansicht sind, all Ihrer früheren Neutralität zum Trotz.«
»Sehen Sie sich Marco di Spinelli an, Signor Sadestatt. Ist das ein Mann, der von einer Vergangenheit in einem Konzentrationslager gequält wird, in dem er von maschinenmäßig mordenden Nazis erniedrigt wurde? Ist das ein Mann, der nach einem halben Jahrhundert noch immer Psychopharmaka schluckt, um eine Stunde in der Nacht Schlaf zu finden? Ist das ein
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