Tiefer Schmerz
Mann, der gräßlichsten medizinischen Experimenten ausgesetzt gewesen ist?«
Hier hatte Arto Söderstedt sich tatsächlich gebremst. Der distinguierte Kommissar, normalerweise ein Wunder an Selbstbeherrschung, ließ für einen kurzen Moment die Beweggründe seiner Hartnäckigkeit erkennen.
Sie waren persönlicher Art.
Auf die eine oder andere Weise persönlicher Art.
»Ihr Vater?« sagte Söderstedt kühn.
»Es ist meine ganze Jugend«, sagte Italo Marconi, und sein Blick war bohrend. »Das Zentrum meiner Kindheit. Sie können nicht schlafen. Sie können nie schlafen.«
Söderstedt schwieg.
Er wartete, bis Marconi, mit gefaßter, aber bebender Stimme, fortfuhr: »Buchenwald war ein grauenhaftes Konzentrationslager in Nazideutschland. Gegen Ende des Krieges saßen dort fast nur noch Nichtdeutsche. Die deutschen Juden waren schon in die Vernichtungslager in Polen abtransportiert, soweit an ihnen keine medizinischen Experimente durchgeführt wurden, und Buchenwald wurde immer mehr ein Internierungslager für ausländische Gefangene. Mein Vater war italienischer Kommunist. Man untersuchte die Bewegung des Bluts durch die Muskelmasse, indem man es live beobachtete, sozusagen. Sezierung des lebenden rechten Arms, natürlich ohne Betäubung. Er lief fast ein Jahr mit dem sezierten herabhängenden Arm herum, bevor Einheiten der dritten US-Armee am elften April Buchenwald erreichten und die Lagertore öffneten.«
Söderstedt wußte nicht recht, wie er mit diesen Informationen umgehen sollte. »Das tut mir leid«, sagte er kraftlos.
»Mir auch«, sagte Marconi und machte sich an verschiedenen Papieren auf seinem Schreibtisch zu schaffen. »Meine gesamte Erfahrung sagt mir also, daß di Spinelli nie in einem Konzentrationslager gesessen hat. Darauf würde ich mein Leben setzen.«
»Sie haben natürlich recht«, sagte Söderstedt. »Es war nur so ein Einfall.«
»Aber entwickeln Sie trotzdem Ihren Gedankengang«, sagte Marconi und war wieder ganz der alte.
»Wer einen achtundachtzigjährigen ehemaligen KZ-Gefangenen tötet, indem er ihn an den Beinen aufhängt und ihm mit einem Metalldraht im Gehirn herumstochert, ist per definitionem Faschist. Ich finde, daß die Kollegen in Stockholm ein bißchen zu leichtfertig davon ausgegangen sind, daß diese Erinnyen in einer Art Mission unterwegs sind. Daß sie vergewaltigte Frauen befreien. Auf mich wirken sie ausgesprochen faschistoid, Auch wenn sie Frauen sind.«
Italo Marconi nickte. Dann sagte er: »Es gibt einen Weg hinein.«
Arto Söderstedt horchte auf, während er sich über die große, uralte Zeichnung des Palastes beugte, die aufgerollt auf dem Schreibtisch lag. Erst jetzt bemerkte Söderstedt, wie minutiös jeder Raum im Palast kartiert war.
»Wir kennen wirklich jeden Winkel im Palazzo Riguardo«, fuhr Marconi fort. »Von hier aus wird ein Unternehmen von der Art geführt, die im Begriff ist, unser Land und unseren Kontinent in den Ruin zu stürzen. Marco di Spinellis Unternehmen stellt ganz einfach die Marktwirtschaft in ihrer reinsten Ausprägung dar. Die unkontrollierte Marktwirtschaft residiert in einem Palast, in dem die hervorragendsten Künstler des Abendlandes durch die Jahrhunderte die Korridore der Macht geschmückt haben. Es ist große und vollendete Schönheit, es ist Bildung, es ist Geschichtsbewußtsein – und es ist schiere, brutale Macht.«
Arto Söderstedt begann zu begreifen, warum der Palast bis ins letzte kartiert war. Man verstand den ganzen Mechanismus – aber man konnte ihn nicht stillegen.
»Der Aufbau des Palastes ist ein bißchen wie bei einer Zwiebel«, fuhr Marconi fort und vollführte weitläufige Gesten über der Zeichnung. »Mit dem Unterschied, daß es einen Kern gibt. Und der Kern ist Marco di Spinellis Büro. Man muß eine Schale nach der anderen durchstoßen. Als die Familie Perduto im sechzehnten Jahrhundert den Palast errichten ließ, war sie von allen Seiten bedroht. Der Palast wurde als eine Reihe einander umschließender Mauerwerke gebaut. Man merkt es nicht, wenn man durch die Korridore wandert, aber Tatsache ist, daß man eine Zugbrücke nach der anderen passieren muß, und diese Zugbrücken können äußerst schnell hochgeholt werden, so daß man direkt in den Wallgraben stürzt, wenn Sie die Bildsprache erlauben. Obgleich der Palast einen offenen und weitläufigen Eindruck macht, gibt es nur ein einziges Tor durch jede Schale, und an diesem Tor befindet sich eine gutbewachte und unverzüglich hochklappbare
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