Tiefer Schmerz
Zugbrücke. Der Versuch, durch diese Tore hindurch die Schalen zu bezwingen, ist sinnlos.«
Söderstedt ließ ein kleines Lachen hören. Er sagte:
»Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenige sind ihrer, die ihn finden.«
Marconi warf ihm einen raschen Blick zu. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht und er nickte: »Matthäus sieben, Vers 13. Es ist wirklich ein schmaler Weg, und es sind ihrer wenige, die ihn finden. Wir haben ihn wie ein As im Ärmel. Für den Fall, daß wir mit sofortiger Wirkung hinein müssen. Hier ist er.«
Söderstedt folgte Marconis Strich, der sich hinaus zu der inzwischen pechschwarzen toskanischen Landschaft erstreckte wie die Spuren des Glühwürmchenfluges, die sich noch eine Weile auf der Netzhaut halten. Es kam ihm vor, als bildete der Strich eine unlesbare Schrift.
Als Marconi mit seinem Strich fertig war, hatte Söderstedt gefragt: »Was glauben Sie selbst, was di Spinelli im Krieg gemacht hat?«
Marconi legte den Stift hin und fixierte seinen nordeuropäischen Kollegen. »Aber das ist doch glasklar«, sagte er.
»Er war Nazi.«
Wie von dem Gleichnis herbeigerufen, tauchte ein Schwarm Glühwürmchen im Garten auf und führte einen flüchtigen Tanz auf, der noch lange, lange sichtbar blieb, nachdem sie selbst verschwunden waren. Ein Gewirr von Lichtfäden, die auch durch das Schließen der Augen nicht zu vertreiben waren, machte es unmöglich, Marconis enge Pforte zu erkennen.
Arto Söderstedt saß eine gute Weile da, starrte ins Nichts und versuchte, die Schrift der Glühwürmchen zu lesen. Er las so lange, bis der Text sich allmählich vor seinen Augen auflöste.
Schließlich war nur noch Italo Marconis helle Linie übrig. Sie schlängelte sich quer durch die Zeichnung wie die zittrige Bleistiftlinie eines Kindes durch das Labyrinth eines Comic-Hefts.
Er sah vor sich, wie die Erinnyen, vielleicht in ebendiesem Augenblick, über die gleiche Zeichnung gebeugt saßen und auf genau den gleichen Strich zeigten wie er selbst. Sie waren unterwegs, er fühlte es. Plötzlich kam es ihm so vor, als erbebte der Garten, wie von einer Art gleitender Gegenwart von etwas. Im Augenwinkel sah er einen Schatten hinter einen Baum gleiten. Und noch einen. Dann schien die ganze Natur in gleitende Schatten gehüllt, die Bäume schienen sich zu bewegen, der Wald näherte sich.
Arto Söderstedt schauderte und versuchte, das Unbehagen abzuschütteln.
Wer waren sie, diese unerbittlichen Gestalten aus der vergessenen Tiefe des Mythos?
Längst war die Zivilisation überzeugt, sie gezähmt zu haben.
Sie schlichen sich an ihre Opfer heran. Mit großer Präzision trieben sie ihre immer panischer werdenden Opfer genau zu dem vorgesehenen Mordplatz. Wenn sie ihn erreichten, waren die Opfer mürbe, zitterten bis in die Tiefe ihrer Seele. Sie versetzten die vergessene, verdrängte Tie fe in ein Beben, und dann hängten sie das Opfer an den Füßen auf und führten eine fürchterliche Nadel in sein Gehirn ein.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sie ihre Opfer bereits in den Wahnsinn getrieben.
Alle außer Leonard Sheinkman. Er hatte sogar mit ihnen gesprochen. Ruhig und still.
Als hätte er auf sie gewartet. Als hätte er lange auf sie gewartet.
Worauf hatte er gewartet? War es etwas, was er im Konzentrationslager gesehen hatte? War es sein eigener Verrat, von dem Paul Hjelm berichtet hatte, nachdem er Sheinkmans Tagebuch gelesen hatte? Sein zweifacher Verrat?
Waren es die Rachegeister seiner Frau und seines Sohnes, auf die er wartete?
Nein, sein Verrat war nicht von dieser Art. Sicher hätte er seine Familie nehmen und nach Amerika fliehen können – daß er das nicht getan hatte, war eine Art Verrat. Sicher hätte er laut protestieren können, als seine Frau und der Sohn hingerichtet wurden, doch das hätte keinen wirklichen Unterschied gemacht.
Nein, es handelte sich um etwas anderes, etwas Schwereres. Da stimmte er ganz mit Paul überein. »Ich habe das vage Gefühl, daß irgendwo ein Denkfehler steckt«, wie er sich am Telefon ausgedrückt hatte.
Und dann war das zweite Gespräch gekommen.
Von Hultin.
»Was hältst du von dem gespenstisch schönen Odessa?«
Morgen würde er fahren. Er würde sein vernachlässigtes Paradies verlassen und sich in die Höhle des Löwen begeben. Er würde versuchen zu
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