Tiefer Schmerz
hatte. Doch mitten in einem allgemeinen Geschwafel kamen die wesentlichen Fragen. Sie hörten sich genauso an wie das Geschwafel, doch sie waren verbunden mit einem Blick, der nicht Onkel Perttis gewöhnlicher Blick war. In solchen Augenblicken sah der kleine Arto den Helden des Winterkriegs, den Guerillakrieger, der sich jahrelang in der Winterlandschaft versteckt gehalten hatte. Er hatte Bilder von Onkel Pertti gesehen aus jener Zeit, und das war wirklich etwas vollkommen anderes. Besonders ein Bild stand ihm ganz klar vor Augen. Der Stolz, der aus Onkel Perttis freundlich-hellem Gesicht leuchtete, wie er fest verankert, die Hand am Säbelgriff, in der Schneewehe stand, war nicht nur imponierend, er war auch bekannt.
Seltsam gut bekannt.
Gut bekannt wie ein Spiegelbild. Es war, als stünde Arto selbst dort in der Schneewehe, die Hand am Säbelgriff, und versuchte sich das Lachen zu verkneifen. Die Ähnlichkeit war direkt unangenehm.
Die Schwafeltaktik hatte Arto Söderstedt übernommen. Wenn auch nicht den Mund.
Okay, die Gedanken schweiften in alle Richtungen. Er versuchte, die Rinnsale aufzufangen und sie ins Hauptbett zurückzuleiten.
Es gelang nicht ganz.
Die Bilder des allem Anschein nach äußerst extravaganten und eisenharten Marco di Spinelli fügten sich nicht zu einem einheitlichen Porträt zusammen. Es blieb oberflächlich. Es blieb eine Serie nichtssagender Projektionen von Daten. Es blieb ungreifbar.
Er würde später einen neuen Anlauf nehmen müssen. Mit frischen Kräften.
Arto Söderstedt leerte das sehr kleine Glas Vin Santo in einem Zug, schaltete den Laptop aus und stand auf.
Dann machte er Siesta.
22
Kerstin Holm war beschäftigt. Normalerweise war sie gern beschäftigt. Sie liebte ihre Arbeit. Get a life, sagte sie manchmal zu sich selbst, wenn sie abends um neun merkte, daß sie allein noch im Präsidium saß. Doch dann dachte sie, daß sie bereits ein Leben hatte und daß die Arbeit tatsächlich ein sehr wichtiger Teil dieses Lebens war. Es bestand aus Arbeit, ihrem Kirchenchor und ein ganz klein wenig Jogging.
Und plötzlich war das nicht mehr richtig ausreichend.
Plötzlich fand sie es wahnsinnig anstrengend, beschäftigt zu sein.
Ihr Leben schickte sich in aller Stille an, eine Metamorphose durchzumachen. Noch eine. Und niemand hatte den geringsten Verdacht.
Sie hatte es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht, Arbeit und Privatleben nicht zu vermischen. Die Eskapade mit Paul Hjelm vor einigen Jahren war der Tropfen gewesen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hatte. Bis dahin waren ihre Beziehungen durchweg polizeilich gewesen. Sie kam aus Göteborg und war mit einem Kollegen verheiratet gewesen, dessen Verhältnis zum Sex äußerst unkompliziert war. Wenn er wollte, hatte sie zu wollen. Das war sein Ausgangspunkt. Also kam es in dem polizeilichen Schlafzimmer zu mancher ganz unbewußten Vergewaltigung. Sie glaubte lange, es müsse so sein. Denn so war ihre Sexualität geprägt worden. Durch einen männlichen Verwandten. Mit Vorliebe an Feiertagen und in Garderoben.
Der Verwandte war seit langem tot, und ihr Exehemann war kürzlich wegen Alkoholismus vom Dienst suspendiert worden. Nach einem Liegenden noch zu treten, lag ihr nicht.
Doch sie glaubte zu verstehen, was richtige, wilde Rachgier war. Und bestimmt begegnete ihr genau diese in dem Ermittlungsmaterial aus Budapest, Maribor, Wiesbaden, Antwerpen, Venedig und Manchester. Das letzte Stück war im Verlauf des Tages eingetroffen; Kommissar Roelants in Antwerpen hatte recht: Es war noch nicht richtig Schluß.
Ein bekannter Zuhälter war schon im März des vorigen Jahres in einem Park in der Nähe des Fußballstadions Old Trafford ins Jenseits befördert worden, und zwar auf exakt die gleiche Weise wie Leonard Sheinkman und all die anderen. Der Fall erstreckte sich über einen längeren Zeitraum. Die Erinnyen waren seit über einem Jahr aktiv.
Die Rachegöttinnen.
Nirgendwo gab es irgendwelche Zeugen. Das machte den Skinhead Reine Sandberg und seine Bande einzigartig in Europa. Sie waren die einzigen, die sie gesehen und überlebt hatten. Seine inzwischen der Polizei genannten Kumpane bestätigten seine Geschichte bis ins kleinste Detail. Sie waren zu viert gewesen. Sie liefen in nackter Panik durch Skogskyrkogården. Als sie zur U-Bahnstation kamen, waren sie nur noch drei. Andreas Rasmusson, der sich in der Psychiatrie langsam zu erholen begann, war drei Stunden zwischen den Gräbern umhergeirrt. Dann hatte er es
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