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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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ständig alles in Bewegung. Er würde nie stagnieren.
    Sie waren sich außergewöhnlich ähnlich. Sie hatte sich in ihr Spiegelbild verliebt, und das Spiegelbild war ein Mann. Das war der Fehltritt. In den letzten Tagen hatte sie verstanden, daß genau das der Fehltritt war.
    Was sie brauchte, war etwas ganz anderes.
    Nach Paul hatte sie eine merkwürdige, intensive Beziehung zu einem sechzigjährigen Pastor der Schwedischen Kirche, der krebskrank war und bald darauf starb. Es war eine umwälzende Erfahrung, die sie zwang, die Voraussetzungen, auf denen ihr Leben beruhte, zu überprüfen. Das hatte sie jetzt zwei Jahre lang getan.
    Und dann kam die Metamorphose. Sie steckte gegenwärtig mitten drin.
    Auf dem Bildschirm prüfte sie jetzt nach, inwieweit die Ermittlungen aus Ungarn, Slowenien, Deutschland, Belgien, Italien und England in irgendeiner Weise andeuteten, daß im Zusammenhang mit den Zuhältermorden Prostituierte verschwunden waren. Deutschland, Italien und England gingen recht glatt, und mit Hilfe eines persönlich zusammengestellten kleinen Lexikons denkbarer Stichworte funktionierte es allmählich auch mit ungarisch, serbokroatisch und niederländisch. Aber schnell ging es nicht. Alle hatten zwar Zusammenfassungen auf englisch geschickt, mehr oder weniger holperig, doch wenn sie es wirklich genau wissen wollte, mußte sie sich in das Sprachenchaos der Originalermittlungen begeben.
    Sie dachte ans elfte Kapitel des ersten Buchs Mose. Der Turmbau zu Babel. Warum war Gott eigentlich auf die Idee verfallen, die einheitliche Menschensprache in so viele aufzuspalten? Warum hatte er die Idee, uns füreinander unbegreiflich zu machen? Hatte die Religion wirklich eine sinnvolle Erklärung dafür?
    Sie ging ins Internet und suchte nach der Bibel. Sie fand als einziges die alte Bibelübersetzung. Das mußte genügen. Die ganze Erzählung vom Turmbau zu Babel war in neun kryptischen Versen enthalten, die mit diesem begannen: ›Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.‹ Was geschieht dann? Die Menschen kommen darauf, wie man Ziegel herstellt, und schließlich bauen sie eine Stadt und einen Turm, der so hoch werden soll, daß er an den Himmel reicht. Das hört sich doch nicht so schrecklich an. Aber das Ziel der Menschen ist offenbar, zu verhindern, daß man ›in alle Länder zerstreut wird‹. Man will seine eine Sprache sprechen und an einem einzigen Ort bleiben. Da taucht Gott auf und denkt ungefähr: Es sieht so aus, als wäre den Menschen nichts unmöglich. Da kommt er auf die Idee, hinabzusteigen und ihre Sprache zu verwirren, ›daß keiner des andern Sprache vernehme‹. Und dann verstreut er sie über die Erde.
    Es gibt keine direkte Erklärung für Gottes Handeln, doch allem Anschein nach benutzt er die Sprachverwirrung, um die Menschen über den ganzen Erdball zu zerstreuen, damit sie nicht alle zusammen an einer Stelle hocken. Denn dann wäre ihnen alles möglich. Auch einen Turm in den Himmel zu bauen, die Domäne Gottes.
    Kerstin Holm fragte sich, ob der Mensch wirklich stärker gewesen wäre, wenn alle an einem Ort gelebt und eine Sprache gesprochen hätten. Wäre uns dann alles möglich gewesen? Im Gegenteil, es klang eher erstickend. Der so geschmähte alttestamentarische Gott, der Gott der Juden, schien die Menschheit eher vor einem faschistoiden Uniformismus gerettet und den kontinuierlichen Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Sprachen, unterschiedlichen Erfahrungen, unterschiedlichem Klima, unterschiedlichem Weltbild ermöglicht zu haben. Der Grund war nicht der, daß er fürchtete, der Turmbau zu Babel könnte seine himmlische Domäne beeinträchtigen – er fürchtete vielmehr, daß der Turm von Babel der Untergang der Menschheit durch Inzucht werden könnte.
    Wenn es einen Gott gab, dann hatte er uns durch die Erschaffung der verschiedenen Sprachen davor gerettet, an unserer eigenen Selbstgenügsamkeit zu ersticken.
    Mit der Rückendeckung dieser Argumentation vertiefte sie sich in die eigentümlichen ungarischen Wörter und fühlte die herausfordernde Kraft des Fremden davon aufsteigen.
    Kriminaldirektor Mészölys Bericht war der letzte. Das Opfer in Budapest war ein neunundzwanzigjähriger Zuhälter, der am zwölften Oktober 1999 in seiner Wohnung aufgehängt worden war. Fieberhaft suchte sie nach gleichzeitig verschwundenen Prostituierten. Mészöly erwähnte nichts in der Art.
    Sechs Länder, dachte Kerstin, davon vier EU-Länder. Ungarn, Slowenien, Deutschland,

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