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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Belgien, Italien und Großbritannien – keines von diesen schien über die Frauen der Sex-Industrie in nennenswertem Umfang Bescheid zu wissen. Daß dies bei Schweden der Fall war, verdankte sich mehr einem Zufall; daß wir es entdeckten, beruhte eigentlich nur darauf, daß wir glaubten, sie seien Asylbewerberinnen, die untergetaucht waren. Da haben wir reagiert. Da lief die Nation Gefahr, verunreinigt zu werden. Wenn acht Prostituierte von den Straßen Stockholms verschwunden wären, hätte kein Hahn danach gekräht. Acht Fälle weniger beim Sozialamt. Viele hätten einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Mehr wäre kaum passiert.
    Daß in den Ermittlungen keine Hinweise auf verschwundene Prostituierte auftauchten, bedeutete nicht, daß es keine gab. Gelegenheit für eine zweite gemeinsame E-Mail an die beteiligten Länder.
    Sie ging die alten E-Mails durch. Von Nummer acht konnte sie nicht genug bekommen: ›Wer in Dreiteufelsnamen hat diese Rundfrage genehmigt? In wessen Budget landet sie? WM.‹
    Je öfter sie diese Mail las, desto wunderbarer erschien sie ihr. Es war eine fabelhafte Zusammenfassung des Wirkens von Waldemar Mörner.
    Nummer zwei war auch gut, die Schimpfkanonade des Pariser Polizeidirektors Mérimée: ›Sie, Madame Holm, scheinen die Ressourcen von Europol für nationale Kleinkriminalität nutzen zu wollen.‹ Angesichts dessen, was zur Zeit rundum in Europa geschah, lohnte es sich beinahe, diese Mail aufzuheben, um sie dem guten Polizeidirektor bei passender Gelegenheit in den Arsch zu schieben.
    Jaja, das klang vielleicht ein bißchen rachsüchtig.
    Mail Nummer eins war dagegen ungerührt. Der cyberflirtende Kommissar Radcliffe aus Dublin. ›Keine Ahnung, welchen Titel er hat, aber er ist nett. Das scheinen Sie auch zu sein, Ms Holm.‹ Und der genannte Nette hieß anscheinend Benziger. ›Ich frage mich, ob ich nicht von etwas Ähnlichem aus der früheren DDR gehört habe. Kontakten Sie Benziger in Weimar.‹
    Es stimmte. Das hatte sie vergessen. Sie fand eine E-Mail-Adresse der Polizei in Weimar und schrieb eine kurze Anfrage an den ihr vollkommen unbekannten Benziger.
    Und dann schickte sie die gemeinsame Anfrage an sechs Länder, in denen Zuhälter mit einer in die Schläfe eingeführten langen Metallnadel an den Füßen aufgehängt worden waren.
    Die Schläfe, ja. Genau da. Kerstin Holm befingerte ein bißchen ihre eigene verdünnte linke Schläfe, wo kein Haar mehr wachsen wollte. War es nicht eine ziemlich schauderhafte Tatsache, daß diese Nadeln genau an dem Punkt in den Kopf eindrangen, wo sie selbst vor weniger als einem Jahr von einer Kugel getroffen worden und nur um Millimeter vom Tod entfernt gewesen war?
    Sie mochte keine solchen Zusammentreffen. Es blieb selten dabei.
    Sie hatte eine vage Erinnerung daran, auf einem matschigen Rasen gelegen und mit Paul Hjelm ihr Blut vermischt zu haben, unter einem Himmel, der alle Schleusentore geöffnet hatte. Und wie sie völlig fertig, völlig durchnäßt, völlig blutüberströmt geflüstert hatte: ›Paul, ich liebe dich.‹
    Sie fürchtete, er könnte sie mißverstanden haben. Zwar liebte sie ihn, aber sie wußte nicht richtig, wie.
    Sie war nämlich im Begriff, eine Metamorphose durchzumachen.
    Doch es war noch nicht möglich, daran zu rühren.

23
    Die Schönheit des Abstrakten. Ein Fall, der immer komplizierter, immer umfassender wurde, konzentriert auf das sehr einfache, sehr klare Pluszeichen eines anonymen Künstlers.
    Möglicherweise hätte es ein Minuszeichen sein sollen.
    Jan-Olov Hultin grämte sich insgeheim, daß nicht er der Künstler war. Seine Skizzen waren in der Regel groß und absurd, mit Strichen und Pfeilen in alle Richtungen, und am Ende war die Flipchart so voll, daß er auf der Rückseite weitermachen mußte. Wenn die Striche und Pfeile sich so weit ausdehnten, daß er ständig die Tafel umdrehen mußte, um einen Gedankengang zu erklären, hatte sein Auditorium im allgemeinen schon aufgegeben.
    Also zog er die Schönheit des Abstrakten vor.
    Deren absoluter Gegensatz in Stapeln vor ihm auf dem Katheder lag. Zum erstenmal seit dem Beginn des Ganzen hatte er sich die Zeit genommen, zu lesen, wie die Presse reagierte. Die Geheimhaltung hatte zum Glück gut funktioniert; das war ungewöhnlich.
    Der Quadrant ›Skansen‹. Der Vielfraßfall war überhaupt kein Fall. In den ersten Tagen waren eine Menge aufsehenerregender Schlagzeilen und Großaufnahmen der abgenagten Knochen erschienen, und in der Abendpresse

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