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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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finden. Von eins bis vier ruhte in Greve das Leben – und zwischen eins und vier kam der Weißfinne in seinem großen Familienauto angefahren, riß an einer verschlossenen Tür und produzierte ein paar Kaskaden undefinierbarer Laute.
    Er brauchte eine Siesta. Soviel war klar.
    Jetzt saß er im Schatten auf dem Altan unter einem extra Sonnenschirm, genehmigte sich ein sehr kleines Glas Vin Santo und sah auf die Uhr. Es war zwei. Mitten in der Siesta. Was ihn freute, war, daß Marconi sich am Telefon sofort gemeldet hatte. Erst jetzt im nachhinein wurde ihm klar, daß er mitten in der Ruhezeit angerufen hatte. Aber offenbar hatte Marconi die Siesta gestrichen. Genau wie er selbst.
    Er war ein Siestaverweigerer.
    Wahrscheinlich würde es sich auf die eine oder andere Weise rächen. Gerade im Moment durch Zerstreutheit. Seine Gedanken verflüchtigten sich und gingen ihre eigenen Wege. Dabei war er immer gut darin gewesen, den Bach einzudämmen und Kanäle zu ziehen, um den Gedankenstrom in die rechte Richtung zu lenken. Jetzt glich das Ganze eher dem Donaudelta.
    Falls er bei Marco di Spinelli vorgelassen wurde, mußte er sehr gut vorbereitet dort erscheinen. Belesen sein wie ein Streber. Aber das Wissen mußte gleichzeitig so weit an den Rand des arbeitenden Bewußtseins gedrängt sein, daß es seinen Denkprozeß und seine Reaktionsfähigkeit nicht behinderte. Manchmal gelang es Arto Söderstedt, Verdächtigte dazu zu bringen, sich zu verplappern. Häufig dadurch, daß er sich dumm stellte. Sein Aussehen trug dazu bei. Es ließ sich schwer abstreiten, daß er ziemlich abwesend aussehen konnte.
    ›Ist Papa tot?‹
    Er kicherte vor sich hin und tauchte vorsichtig die Zungenspitze in das sehr kleine Glas.
    Wie konnte di Spinellis Interesse geweckt werden? Womit mußte man ihn locken, um ihm die Zunge zu lösen? Arto Söderstedt hatte an die zehn Bilder von di Spinelli auf den Bildschirm geholt und versuchte, sich rein visuell ein Bild von dem Mann zu machen. Noch war er ja nur ein Bild. Oder eher eine Bildserie.
    Arto Söderstedt versuchte sich die ganze Situation vorzustellen, wie man ihn empfangen würde, wie di Spinelli reagieren würde, welche Gesprächsthemen sich ergeben würden und – vor allem – wie es überhaupt möglich sein würde, wesentliche Fragen zu formulieren, als wären sie ganz unwesentlich. Das war eigentlich der große und entscheidende Trick.
    Das hatte er von Onkel Pertti gelernt.
    Gut, Arto Söderstedt war ein ungewöhnlich gut ausgebildeter Bulle mit einer Vergangenheit, über die er höchst ungern sprach. Karriereanwalt in Vasa, Finnland, mit fünfundzwanzig. Hielt den Abschaum des Erdballs vom Rechtsstaat fern. Spezialisierte sich auf die reichsten und gerissensten und gewissenlosesten Verbrecher. Bis er von diesem verlogenen Wahnsinnsleben das Kotzen kriegte, fluchtartig das Land verließ und in Schweden landete, wo ihm nach ein paar Hundejahren das Kunststück gelang, Polizist zu werden, bis er den Oberen bei der Polizei Stockholm zu aufsässig wurde und nach Västerås versetzt wurde, wo er ein ruhiges, angenehmes und vollkommen unerträgliches Vorortleben führte. Da kam ein Kriminalkommissar mit einer Eulenbrille auf einer sehr großen Nase in die Wache spaziert. Und sein Leben änderte von neuem die Richtung.
    In der A-Gruppe war er zum Joker geworden. Die Karte, die ein Spieler mit einem Pokerface nonchalant auf den Tisch wirft und dann den Jackpot einsackt.
    Oder so ähnlich.
    Trotz dieses wechselvollen Lebens, trotz des Übermaßes an Ausbildungswegen und Lehrgängen, war Onkel Pertti die Instanz, von der er den großen und entscheidenden Trick gelernt hatte.
    Pertti Lindrot, der Held des Finnischen Winterkriegs, der Sieger bei Suomussalmi, der Mann, der der Familie Söderstedt postum diese denkwürdige Zeit in der Toskana geschenkt hatte, war keine Gestalt aus der Vergangenheit. Er war keiner von den Verwandten, die ansprechende Bilder von sich selbst in den Hinterköpfen der Kinder ablagern und damit ihr Leben um einige Jahrzehnte verlängern.
    Er war ein verkommener, durch und durch boshafter Abfallhaufen, nur ein großer, stinkender, zahnlos höhnisch grinsender Mund.
    Erinnerungen …
    Eins jedoch hatte er von Onkel Pertti gelernt. Es war vorgekommen, daß dieser ihn auf den Schoß genommen und versucht hatte, ihm Vernunft beizubringen. Klein-Arto hatte nur eins im Sinn: so gewandt wie möglich zu entkommen. Er erinnerte sich noch ganz deutlich, wie der zahnlose Mund gestunken

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