Tiefer Schmerz
zur U-Bahn geschafft und war später völlig verwirrt von der Polizei auf dem Hauptbahnhof aufgegriffen worden.
Irgendwie wünschte sie, sie könnte Mitleid mit ihm haben.
Kerstin glaubte zu verstehen. Sie glaubte tatsächlich zu verstehen, worum es in diesem Fall ging. Es war hemmungslose, wilde Rachgier.
Die dunklen, mageren, schwarzgekleideten Gestalten waren zweifellos Frauen. Aber was für Frauen? Welche Frauen hatten Grund, Zuhälter zu ermorden? Prostituierte, natürlich. Es war wahrscheinlich, daß die sogenannte Ninja-Feministin einer Gang gut trainierter ehemaliger Prostituierter angehörte. Kleidung laut Adib Tamar am Odenplan: ›Rote Lederjacke, enge schwarze Hose, schwarze Joggingschuhe.‹ Hatte sie die ganze Ausrüstung unter der roten Lederjacke? War sie sozusagen kampfklar, wenn jemand sie angriff? Wurde es deshalb so unnötig brutal?
Normalerweise war es nicht unnötig brutal. Man griff sich nicht wahllos irgendwelche heruntergekommenen drogenabhängigen Klein-Zuhälter, sondern sämtliche ermordeten Zuhälter waren auch rücksichtslose Gewaltverbrecher. Allesamt waren sie Mörder. Und allesamt hatten sie ein paar Vergewaltigungen auf ihrem Konto.
Ja, es waren Schweine.
Wenn nun das, was sich auf der U-Bahnstation Odenplan abgespielt hatte, die Konsequenz kontrollierter Gewalttaten war? Wenn dies nun das erste Anzeichen dafür war, daß man nie Gewalt anwenden kann, ohne daß sie Spuren hinterläßt, ohne daß sie früher oder später explodiert und Amok läuft? Fast alle Vietnam-Veteranen sind schwer süchtig, die Männer, die die Atombomben über Japan abwarfen, wurden mehr oder weniger wahnsinnig, und wir fangen gerade erst an, die Langzeitfolgen der Gewalt in Jugoslawien zu erkennen. Gewalttäter – und sicher auch Gewalttäterinnen – werden zuletzt von ihren eigenen Gewalttaten verschlungen. Henker sind immer wahnsinnig geworden, die Geschichte legt davon Zeugnis ab. Man wird von innen heraus zerfressen.
Hamid al-Jabiri war kein mordender Zuhälter. Er war nicht gerade der Musterknabe Gottes, aber hatte er ein so grauenvolles Ende verdient? War er wirklich einer der zum Tode Verurteilten? Nein, da war es entgleist. Nach einem Jahr. Das war vielleicht eine erträglich lange Zeit. Von da an ging es nicht mehr.
Von da an entwickelte die Gewalt ihre eigene Dynamik. Sie war nicht mehr vollständig gesteuert. Sie begann auch selbst zu steuern.
Das war zumindest ein Deutungsversuch.
Seit einem Jahr waren die Erinnyen jetzt aktiv. Ihre Gewalthandlungen waren strikt kontrolliert und erstreckten sich nicht auf Unschuldige (wenn man, wieder einmal, von Leonard Sheinkman absah). Sie hatten Männer im Visier, die ihrer Meinung nach ganz einfach den Tod verdient hatten. Und sie bekamen einen grausigen Tod. Doch möglicherweise war das nicht alles, was sie taten. Es wäre interessant zu wissen, ob die Truppen immer weiter verstärkt wurden. Ob im Zuge der Rachehandlungen neue Kämpferinnen rekrutiert wurden. Waren acht allem Anschein nach ziemlich kaputte Frauen aus dem Norrboda-Motel einer Art Armee einverleibt worden? Würden auch sie sich nach erfolgtem Entzug und Training die engen schwarzen Sachen überstreifen und rundum in Europa Zuhälter ermorden? War dies eine Methode, der gewaltig wachsenden Prostitutionsindustrie zu begegnen?
Waren es die Frauen Osteuropas, die zurückschlugen?
Falls es so war, hoffte Kerstin Holm, daß sie nicht gefaßt würden.
Ja, sie war Polizistin. Ja, es war ihr Job, Verbrechen zu verhindern und Verbrecher zu fassen. Und ja, sie hoffte, daß sie nicht gefaßt würden.
Das hieß nicht, daß sie nicht ihren Job machte. Aber sie war nicht besonders froh über ihre Aufgabe.
Und nicht nur, weil ihr Leben gerade eine Metamorphose durchlief.
Nach der Scheidung von ihrem Polizei-Kollegen-Ehemann landete Kerstin Holm in Stockholm. Die A-Gruppe wurde gebildet. Während einer kurzen, intensiven Beziehung mit Paul Hjelm hatte sie sämtliche Schleusen geöffnet und alles erzählt.
Zum erstenmal in ihrem Leben, und das machte die Beziehung zu ihm zu etwas ganz Besonderem, auch nachdem das Verhältnis zu Ende war. Sie liebte ihn noch immer, allerdings nicht so, nicht in der Form, daß sie ihr Leben mit ihm würde verbringen wollen. Aber er war mit seiner eigentümlichen Kombination von Ungeschicktheit und Präzision, Zärtlichkeit und Härte, Verbissenheit und Passivität, Intellekt und Gefühl ein Mann, der ihr ganz einfach ungewöhnlich lebendig vorkam. In ihm war
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