Tiefes Land
ausgeführt worden war. Nur was genau würde in sechsunddreißig Stunden geschehen? Bisher gab es darauf nicht einen brauchbaren Hinweis. Der Unbekannte im Krankenwagen vor ihm bedeutete momentan die einzig vorhandene heiße Spur.
Als die Fahrzeuge auf die Umgehungsstraße in Richtung Klinik einbogen, klingelte Willems Mobiltelefon. Tessa Boyens war in der Leitung.
»Sagt Ihnen der Name Yuri Sneek etwas?«
»Nicht, dass ich wüsste. Aber Sie werden mich sicher aufklären.«
»Sneek ist der Mann für die ganz großen Sachen. So eine Art Rambo für alles, was mit Waffen, Sprengstoff und sonstigem militärischen Spielzeug zu tun hat.«
»Lassen Sie mich raten. Sein Spezialgebiet sind biologische Kampfstoffe?«
»Exakt. Sneek ist Kroate mütterlicherseits. Sein Vater stammt aus den Niederlanden. Er rühmt sich damit, bereits in der ganzen Welt erfolgreiche Jobs erledigt zu haben. Unter anderem in Korea, USA oder Afghanistan. Er pflegt dabei einen besonderen Spleen. Zu Beginn jedes neuen Auftrags lässt er sich ein zum Auftragsort passendes Symbol tätowieren. So eine Art dauerhaftes Kassenbuch, direkt auf der Haut. Dadurch bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass Sneek einer der vier Täter von heute Morgen ist. Es gibt nur ein Problem.«
»Welches?«
»Laut Datenbank wurde Sneek im Nahen Osten vor mehr als sechs Jahren während einer Militärkontrolle erschossen.«
09:45 Uhr, 4. Mai, AMC, Amsterdam
Die bisherige Bilanz des Falles sah nicht gut aus. Der erste bislang identifizierte Beteiligte am Raubüberfall weilte offiziell nicht unter den Lebenden und der einzig lebendige Zeuge schwebte irgendwo zwischen dauerhaftem Koma und tiefer Bewusstlosigkeit.
Wie fast zu erwarten, hatte sich auch der weiße Van als schon vor Wochen gestohlen gemeldet und das Nummernschild als gefälscht herausgestellt. Willem trommelte nachdenklich mit den Fingern auf das Lenkrad, während er dem Krankenwagen folgte.
Da die Straße frei war, hatte der Fahrer das nervtötende Martinshorn abgeschaltet und fuhr jetzt nur noch mit dem Signallicht. Das gab ihm die Zeit, die restliche Strecke bis zur Klinik alle bisherigen Details einmal Revue passieren zu lassen.
Obwohl kaum Aussicht auf Erfolg bestand, hatte er Tessa Boynes auf den Söldner Yuri Sneek angesetzt. Mit einer gehörigen Portion Glück konnte die Agentin etwas mehr über den Mann herausfinden. Trotzdem kam es ihm so vor, als wäre das so aussichtsreich wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Die Hoffnung ruhte damit allein auf dem bewusstlosen Unbekannten aus dem Kofferraum des weißen Vans. Er war der Einzige, der die Täter womöglich näher beschreiben würde. Nicht auszudenken, sollte es den Ärzten nicht gelingen, den Mann wieder zurück ins Leben zu holen. Dann blieb ihm nur noch abzuwarten, was passieren würde, wenn der Timer ablief.
Der Timer. Das kleine, rote Gerät aus Plastik ließ sich an jeder zweiten Ecke kaufen und hatte auch sonst nichts Besonderes an sich. Außer, dass er jetzt bereits eine halbe Stunde weniger anzeigte. Keine Seriennummer, keinen Herstellernamen, keine technische Raffinesse wie eine Funkverbindung oder Ähnliches. Und keine Fingerabdrücke. Ein Spielzeug für Kinder und Bastler. Nicht mehr.
Für Willem fühlte es sich an, als ob das Gerät wie eine moderne Ausgabe des Damoklesschwerts über ihm schwebte und die Sekunden herunter zählte.
Am nächsten Morgen begannen die Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag der Befreiung. Dem nationalen Feiertag, an welchem im ganzen Land dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung gedacht wurde. Nahezu jeder Ort konnte zum Ziel eines möglichen Anschlags werden.
Tausende von Menschen waren an diesem Tag unterwegs, genossen Konzerte, trafen sich in den Parks oder genehmigten sich Erfrischungen an den Boulevards und Plätzen der Städte. Ein unübersichtlicher Ameisenhaufen. Es hilft nichts, dachte Willem. Wir brauchen einfach mehr Informationen.
Nachdem der verletzte Mann in der Notaufnahme versorgt und auf die Station gebracht worden war, suchte Willem den verantwortlichen Arzt, Dr. Havell, auf. Dieser machte einen überarbeiteten, jedoch nicht minder freundlichen Eindruck. Willem erklärte dem Arzt in groben Zügen den Grund seines Besuchs.
»Ich darf ihnen eigentlich keine näheren Auskünfte zum gesundheitlichen Zustand unseres Patienten geben. Dieses Recht behält sich in solchen Fällen der Oberarzt vor. Da der aber bis einschließlich nächster Woche auf einem
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