Tiefes Land
worden waren. Wohnraum gab es in Amsterdam reichlich und noch mehr Menschen, die sich solchen nicht leisten konnten. Daher hatte sich in den letzten Jahrzenten eine ungewöhnliche Wohnkultur in Amsterdam entwickelt. Stand ein Haus über ein Jahr leer, zog man ein, notfalls auch ohne Einverständnis des Besitzers.
Im fünften Stock angekommen, blieb Willem vor der angelehnten Tür einer Wohnung stehen. Ein durchdringender Geruch lag in der Luft, den jedoch anscheinend niemand im Gebäude bisher gestört hatte. Tessa keuchte angeekelt auf.
»Ich glaube, hier sind wir richtig. Oder was denken Sie, Tessa?«, flüsterte Willem.
Willem bezog Stellung neben dem Eingang und deutete Tessa, das Gleiche zu tun. Dann zog er unter seinem Jackett eine Five-Seven hervor und entsicherte sie.
»Eine Pistole?«, fragte Tessa ungläubig. Sie konnte nicht glauben, was sie da in der Hand von Willem sah. »Den Agenten des AIVD ist es nicht genehmigt, Schusswaffen zu tragen.«
»Wollen Sie da etwa ohne reingehen? Ich jedenfalls nicht.«
»Dann sollten wir Verstärkung bei der Polizei erfragen und uns solange zurückziehen. Dieses Vorgehen entspricht den Vorschriften.«
»Wir haben keine Zeit für irgendwelche Vorschriften. Ich gehe da jetzt rein. Entweder Sie kommen mit oder Sie warten hier draußen auf mich. Ihre Entscheidung.«
Damit stieß er mit dem Fuß gegen die Tür, warf einen schnellen Blick in die Wohnung und trat ein. Tessa zögerte eine Sekunde, dann folgte sie ihm.
Die Zimmer standen bis auf zwei, drei Einkaufstüten mit geöffneten Lebensmittelverpackungen und einer alten Matratze leer. Im Nebenzimmer lag die verstümmelte Leiche einer jungen Frau. Der unangenehm süßliche Geruch aus dem Flur war jetzt so intensiv, dass man ihn beim besten Willen nicht mehr ignorieren konnte.
»Eine schöne Schweinerei, oder?«
Willem deutete auf den Leichnam. Tessa dagegen kämpfte um ihre Fassung. Der Anblick der grausamen Verstümmelungen setzte ihr ungemein zu. Tiefe Schnitte, welche Muskeln, Gewebe und innere Organe freigelegt hatten, liefen über den nackten Körper. Das Opfer musste unendliche Qualen erlitten haben, bevor der Tod es erlöste. Unsicher stolperte die Agentin nach draußen und übergab sich würgend im Hausflur.
Van den Dragt wartete, bis sich seine Nase einigermaßen an den Geruch gewöhnt hatte. Dann kniete er sich neben die Tote und untersuchte sie und die auf dem Boden liegenden leeren Ampullen mit aller gebotenen Umsicht.
Jemand trat mit schweren Schritten hinzu. Eine tiefe, angekratzte Stimme sprach Willem an, die eindeutig nicht zu Tessa gehörte.
»Bevor es hier zu einer hässlichen Szene kommt, würde ich vorschlagen, dass Sie jetzt langsam und vorsichtig die Waffe neben sich ablegen und dann die Hände hochnehmen. Und kommen Sie nicht auf dumme Gedanken. Ich kann es wirklich nicht leiden, wenn sich Verdächtige der Verhaftung widersetzen.«
Willem tat wie geheißen und drehte sich anschließend um. Vor ihm, mit einer auf ihn gerichteten Pistole, stand ein grauhaariger, unrasierter Mann mit tiefen Ringen unter den Augen. Hinter diesem, auf dem Flur, wurde Tessa von zwei Polizisten in Schach gehalten.
»Und jetzt würde ich mich freuen, wenn Sie mir in aller Ruhe erklären, was Sie mit dieser Leiche zu tun haben.«
»Jedenfalls nicht das, was Sie gerade meinen. Mein Name ist Willem van den Dragt. Die junge Frau dort ist Tessa Boyens. Wir arbeiten beide für den AIVD. Ich kann mich gerne ausweisen. Oder Sie rufen im Ministerium an, falls Sie mir nicht glauben wollen.«
Angemer nickte zustimmen, nahm den Ausweis von Willem entgegen und studierte ihn sorgfältig. Dann senkte er die Waffe und steckte sie in das Schulterholster unter seiner Jacke zurück. »Gerrit Angemer, Mordkommission.« Der Polizist sparte es sich aus, Willem die Hand zu geben, nachdem er den Ausweis zurückgereicht hatte. »Meines Wissens gehören Mordfälle nicht zu den Ressorts des AIVD. Was also machen Sie hier?«
»Das Gleiche könnte ich Sie auch fragen. Immerhin dürfte niemand von der Leiche Kenntnis haben, wenn wir den oder die Mörder einmal außen vor lassen. Es sei denn, der Verantwortliche für diese Tat steht mir just in diesem Moment gegenüber.«
»Jetzt passen Sie mal schön auf, Agent Van den Dragt. Mir passt es überhaupt nicht, wenn mir jemand bei meinen Ermittlungen in die Quere kommt. Schon gar nicht so ein neunmalkluger AIVD-Spion, der meint, entweder die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben oder
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