Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
der Algarve blies ein starker Seewind. Als er sich mühsam aufrichtete und auf die Uhr schaute, vernahm er das ferne Donnern der Brandung am Strand. Es war früher Vormittag.
Tiny hatte sich seit dem Abend in Albufeira nicht mehr blicken lassen. Jung fiel dazu ein, dass die Zeit offensichtlich reif geworden war, Svenja zurück ins Haus zu holen.
Er stand auf und ging ins Badezimmer. Aus der großen Spiegelwand blickte ihn ein unrasierter, verstruwelter Penner an. Jung erschrak. Er fragte sich, was aus ihm geworden war. Er beugte sich vor und sah sich genauer an. Ihm wuchsen Haare, wo ihm früher nie Haare gewachsen waren. Seine Haut war zerknittert wie Backpapier und wies hier und da Verfärbungen auf, an Stellen, an denen sie sich vor wenigen Jahren noch glatt und makellos präsentiert hatte. Er wurde alt, stellte er zu seinem Entsetzen fest. Mit einem Knall war eine Tür aufgesprungen, die den Gang in eine Welt öffnete, die Jung vorher noch nie betreten hatte und an deren Eingang er vorsätzlich achtlos vorbeigeeilt war. Was würde er jenseits des Ganges wohl zu sehen bekommen? Oder überfielen ihn nur Halluzinationen, ausgelöst durch die Schrecksekunde beim Anblick seines schlaftrunkenen Gesichtes? Hatte er sich etwa Illusionen über sich selbst hingegeben? Vielleicht hatten andere, Svenja, seine Kinder, Franzen, Holtgreve und so weiter schon längst gesehen, was er bis heute völlig ignoriert hatte? Bei dem Gedanken schauderte er.
*
Ihm fiel ein, dass Maria heute kommen würde und noch immer nicht erledigt war, um was sie ihn gebeten hatte. Er redete sich zu, ganz relaxt zu bleiben, und machte sich erst einmal an eine gründliche Renovierung seiner körperlichen Hülle. Er rasierte sich, duschte, föhnte seine Haare und bürstete sie lange. Dann beschnitt und feilte er die Nägel an Füßen und Händen, cremte sich mit einer hautpflegenden Lotion ein und legte zum guten Schluss noch einen Spritzer Dior Homme Sport auf. Er betrachtete sich abschließend kritisch im Spiegel.
Er war mit seinen Bemühungen zufrieden und wollte sich gerade etwas Bequemes zum Anziehen heraussuchen, als das Telefon klingelte. Noch im Bademantel, eilte er in die Diele, wo ihm neben dem Telefon Marias Papiere unangenehm aufs Gewissen drückten. Er nahm den Hörer ab.
»Jung.«
»Hallo, Tomi. Morten Franzen hier. Wie geht’s dem Urlauber?«
»Hallo, Morten. Das ging aber schnell. Schön, deine Stimme zu hören.«
»Danke. Und der Urlaub? Wie geht’s dir da unten?«
»Eigentlich ganz gut. Jedenfalls bin ich zufrieden mit mir.«
»Das klingt etwas gedämpft, mein Lieber. Vielleicht kann ich dich ja aufheitern«, erwiderte Franzen munter.
»Bist du erfolgreich gewesen? Hast du was herausgefunden?«
»Bist du von mir etwas anderes gewohnt, mein Lieber?«
»Nein, natürlich nicht. Schieß los.«
»Also, es gibt einige Händler in Deutschland, die deinen Wein führen. Bei uns im Norden habe ich nur HAWESKO in Hamburg gefunden.«
»Das habe ich mir schon fast gedacht«, unterbrach ihn Jung. »Mach weiter.«
»Sie haben sogar einen 94-er. Er kostet nur die läppische Kleinigkeit von 240 Euro die Flasche.«
»Darüber kann man ja nun wirklich nicht meckern. Und Sotheby’s? Hast du da etwas gefunden?«
»Immer schön langsam, Herr Oberrat. Nicht diese jüdische Hast, bitte.« Franzen machte eine Kunstpause.
»Okay. Ich leg mich dann erst mal ’ne Stunde aufs Ohr, einverstanden?«
»Du bringst mich um meine schönsten Momente, Jung«, erwiderte Franzen ungehalten. »Also, höre genau zu: Sotheby’s hatte vor exakt zwei Wochen eine Auktion von Bordeaux-Weinen, unter anderem war auch dein 94-er Château was-weiß-ich mit von der Partie. Und nun darfst du raten, wo sie stattgefunden hat.« Er schwieg erwartungsvoll.
»Weiß der Henker. Die versteigern doch überall auf der Welt. War es Hongkong?«
»Nicht schlecht. Die reichen Schlitzaugen stehen auf diesen Luxusscheiß. Aber dennoch daneben. Zwei hast du noch.«
»Ach, komm schon. Ich kürz das mal ab. London?«
»Falsch, ganz falsch.«
»Und? Nun rück schon raus damit.«
»Lissabon«, sagte Franzen betont nüchtern und zählte dann die recherchierten Fakten herunter wie ein Pferdehändler die Vorzüge seines Gauls. »Hotel Dom Pedro Palace, 103 Bieter, exklusive anonyme Bieter, versteht sich, die Namensliste der Anwesenden liegt mir vor, die verkauften Lose und die Namen der Erwerber ebenfalls.« Franzen machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion, die
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