Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
unterhielt sich laut inmitten von Zigarettenqualm und Bierdunst. Tiny kämpfte sich, Jung im Schlepptau, geschmeidig an den Tresen vor, hinter dem eine hübsche Frau Bier zapfte.
Sie war Engländerin, wie nicht anders zu erwarten, nicht sehr groß und schlank. Jung schätzte sie auf 1,70 Meter und um die 65 Kilogramm. Sie hatte ein Gesicht, das man gern anschaute, aber das sich nicht ins Gedächtnis grub. Sie war gekonnt frisiert, und dennoch blieb ihre Haarpracht unspektakulär. Sie hatte Figur, Busen, genug nackte Haut und Dekolleté, aber nicht zu viel davon. Ihr Outfit hatte Glamour, war aber nicht geeignet, Gaffer auf sich zu ziehen. Ihr Alter blieb im Dämmer der Kneipe unbestimmbar wie ihre ganze Person. Sie wirkte jugendlich.
»Hi, Eve, how are you doing?«, begrüßte Tiny die Frau enthusiastisch.
»Hi, Tiny. Really fine. It’s just before we gonna go crazy, you know?« Sie lachten sich beide lauthals an.
»This is my lovely neighbour Tomi. He guards me this night, okay?« Sie lachten erneut.
»Hi, Tomi. You are wellcome!«
»Hi, Eve«, quälte sich Jung ab. Es widerstrebte ihm, wildfremden Menschen zu schnell zu nahe zu kommen, selbst wenn die Nähe nur verbal blieb.
Tiny hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und äugte über die Köpfe der Anwesenden hinweg in jeden Winkel des Pubs.
»Tiny, our community got some new members«, erregte Eve seine Aufmerksamkeit.
»Oh fine, Eve. Who are they? Some hot women?« Sie lachten wieder laut und vertraut. Eve kam hinter dem Tresen hervor, hakte sich bei Tiny ein und schob ihn nach hinten in das Halbdunkel des Gastraumes, zwischen angeregt plaudernden Gästen hindurch, die riesige Löwenbräu-Bierseidel in den Händen hielten. Sie hoben sie in die Höhe, um den beiden Platz zu machen. Löwenbräu schien diese Saison unter den Algarvebriten der Renner zu sein, dachte Jung.
Er wandte sich dem Tresen zu und studierte die Spirituosen, die sich auf den Regalen tummelten wie eine chaotisch-bunte Truppe karnevalesker Gardesoldaten. Er überlegte, was ihm jetzt guttun könnte. Er fühlte sich wie ein alter Fisch, der in ein fremdes Aquarium gesetzt worden war. Um ihn herum schwirrten Töne, entfaltete sich geselliges Treiben, aber nichts davon erreichte ihn. Das Aquarium blieb stumm. Vielleicht sollte er etwas Hochprozentiges trinken. Das könnte seine Zunge lösen und seine Gehörgänge öffnen. Zu diesem Zweck waren Spirituosen wahrscheinlich auch erfunden worden, kam ihm bei dieser Gelegenheit in den Sinn. Tiny schien damit keine Probleme zu haben, das war Jung schon gestern aufgefallen. Hoffentlich fühlte der sich nicht so wohl, dass er am Ende außerstande war, sie wieder heil nach Hause zu fahren. Wenn alle Stricke rissen, musste er eben ein Taxi nehmen. Hatte er genug Geld dabei? Als er zu überlegen begann, fiel ihm siedend heiß ein, dass er ganz vergessen hatte, Tiny die Papiere auszuhändigen, die Maria ihm anvertraut hatte. Er beruhigte sich damit, dass es auch morgen nicht zu spät sein würde, das Versäumte nachzuholen. Er fasste sich in Geduld, bis er bei Eve seine Bestellung aufgeben konnte.
»Well, Tomi. Here I am«, meldete sich Eve bei ihm zurück, als sie ihren Platz hinter dem Tresen wieder eingenommen hatte. »What do you like to drink? You are my guest. Feel yourself free.« Sie lächelte Jung gewinnend an.
»Oh, thanks a lot, Eve«, lächelte Jung zurück. Er war ihr dankbar, dass sie ihn aus seiner Isolation befreite. »I have a Brandy, is that okay?«
»Sure, Tomi. Spanish or portugese?« Er musste ein verdattertes Gesicht gemacht haben, denn sie lachte und kam ihm zuvor:
»Take a portugese one, a Maceira. It tastes really good, believe me.«
»Okay. As you like it.«
Er sah ihr zu, wie sie sich hinter dem Tresen zu schaffen machte. Er konnte sie in dem Licht unter dem Barschrank jetzt besser betrachten. Sie war weitaus älter, als sie schien. Sie hatte sich angestrengt, in Form zu bleiben. Ihre Wirkung aus der Ferne kaschierte ihr wahres Alter. Ihre Gesichtshaut musste sie über die Jahre sorgfältig gepflegt haben, sodass sie glatt geblieben und gut durchblutet wirkte. Aber unter den Ohren und am Hals hatten ihre Anstrengungen die natürliche Alterung nicht aufhalten können. Jung fragte sich bewundernd, wie sie es überhaupt in dieser Räucherkammer geschafft hatte, sich gegen die Attacken auf ihre Gesundheit und ihr Aussehen zu wehren. Sie hatte sich auf eine eindrucksvolle Weise konserviert. Ihre Augen waren klar
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