Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
seine geleistete Arbeit gebührend honoriert hätte. Er wurde enttäuscht.
»Wer hat den 94-er ersteigert?«
»Bist du eigentlich im Urlaub oder im Dienst?«
»Entschuldige. Der Name würde mir schon reichen, um endgültig im Urlaub anzukommen.«
»Gut, Herr Oberrat, Benimmkurs bestanden«, seufzte Franzen und atmete hörbar aus. »Also«, fuhr er fort, »das Los umfasste zwei Kisten, der Zuschlag ging an einen Marc Callahan aus Liverpool.«
Jung verstummte. Der Name dröhnte in seinen Ohren. Er brauchte sein Gedächtnis nicht zu befragen, er wusste auf der Stelle, wo er ihn gehört hatte. Sein Erstaunen steigerte sich in Entsetzen. Er wunderte sich nur, dass Morten den Namen nicht zu kennen schien. Hatte er von der Medienhype über den Entführungsfall an der Algarve noch nichts mitbekommen?
»Tomi, was ist?«
»Morten, du hast wirklich großartige Arbeit geleistet. Danke. Ich werde mich erkenntlich zeigen, wenn ich wieder in Flensburg bin. Ich muss Schluss machen. Entschuldige meine Eile. Sei mir nicht böse. Tschüss, bis bald.«
»Ich hoffe, du machst keinen Unfug«, erwiderte Franzen besorgt. »Du bist im Urlaub, Tomi. Vergiss das nicht. Erhol dich gut. Wir sehen uns in Flensburg. Tschüss.«
Jung legte den Hörer zurück, blieb neben dem Apparat stehen und schloss die Augen. Was war hier eigentlich los, fragte er sich. Gedankenverloren nahm er die neben dem Telefon liegenden Papiere auf und entfaltete sie. Er überflog das Dokument. Er hielt den Vertrag über die Anmietung eines Autos in den Händen, ausgestellt auf den Namen Marc Callahan, Liverpool, Residencia temporaria: Praia da Luz, Clube Atlantico, Portugal.
Jung hatte den dringenden Wunsch, sich zu setzen. Er nahm die Papiere mit auf die Terrasse und sank in einen Stuhl unter dem im Wind flatternden Sonnenschirm. Es würde bald anfangen zu regnen, das registrierte er noch. Aber er verschwendete keinen Gedanken daran, den Schirm vor dem Wetter in Sicherheit zu bringen oder sich etwas Passenderes anzuziehen. Er saß einfach da, überwältigt von dem Gedankenwust, der sich in ihm aufzutürmen begann.
Callahan war der Name der Familie des entführten Mädchens. Sie machten Urlaub in Praia da Luz. Die Autopapiere waren auf den Namen des Vaters ausgestellt. Der Wein in Tinys Keller war von einem Mann gleichen Namens, sogar gleichen Vornamens, ersteigert worden. Sie kamen beide aus Liverpool. Der Name war kein Allerweltsname und nicht so häufig – vor allem nicht in Portugal –, als dass eine vernünftige Wahrscheinlichkeit bestanden hätte, dass davon gleich mehrere verschiedene zur gleichen Zeit am selben Ort mit Tiny in Kontakt getreten sein konnten. War das alles nur ein seltener Zufall, der sich schon bald aufklären würde? Jung wollte gern daran glauben, aber es gelang ihm nicht. Seine Erfahrung hinderte ihn daran. Im Übrigen konnte er über die in den Mietpapieren vermerkten Führerschein- und Ausweisnummern auch die allerletzten Zweifel an der Identität des Mannes leicht ausräumen, fiel ihm abschließend ein. Ihn beunruhigte in diesem Zusammenhang, dass er Tiny seit dem Abend in Albufeira nicht mehr gesehen hatte.
*
Er konnte sich Tiny als Kriminellen nicht vorstellen, auch nicht im weitesten Sinne oder angesiedelt in den absurdesten Ecken menschlicher Abgründe. Das passte nicht zu ihm. Jung war sich, selbst nach nur flüchtiger Bekanntschaft, in seinem Urteil über Tiny sicher, mit aller Gewissheit, zu der er fähig war. Dennoch musste es zwischen ihm und dem Vater oder sogar beiden Elternteilen des Mädchens eine Verbindung geben. Das schien Jung ebenso sicher, wie dass er schuldlos war. Tiny war nicht dumm. Aber wie vermochte er sich so unbekümmert und unbeteiligt zu geben, wie er ihn in den vergangenen Tagen erlebt hatte? Gut, einige Auffälligkeiten waren nicht zu übersehen gewesen. Jung bewertete sie aber jetzt, im Lichte der neuesten Entwicklung, ganz anders als noch zu Zeiten unbelasteten gegenseitigen Abtastens. Die Erinnerungen daran waren Jung gegenwärtig und standen ihm deutlich vor Augen. Dennoch, er sah sich einem Phänomen gegenüber, dessen Ausmaß neu für ihn war – und er hatte in dieser Beziehung schon einige Überraschungen in seinem Leben zu verdauen gehabt.
Eve drängte sich in seine Gedanken. Hatte sie ihn nicht gewarnt? ›He is a poor tall boy without any useful thoughts.‹ Ihre Worte bekamen eine Bedeutung, die er ihnen an dem Abend im Pub, über dem Strand von Albufeira, unter Bierseidel
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