Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
Endlich war es vorbei. Jung brach der erste Schweiß aus.
»Wir gehen jetzt runter auf den Low-level-Kurs«, sagte Tiny ruhig. »Aufpassen.«
Jung wusste mit dieser Anweisung nichts anzufangen. Eine Bestätigung brauchte er nicht zu geben, nur im Notfall, erinnerte er sich. Er sah sich in keiner Notlage. Tiny drückte das Flugzeug in einen Sturzflug, zurück zur Erde. Jung wurde kurz aus seinem Sitz gehoben und spürte, wie sich sein Magen hob. Die aufsteigende Magensäure schluckte er mühsam wieder hinunter. Dann sah er den Boden auf sich zurasen und wollte sich mit den Händen abstützen. Das Gurtzeug hielt ihn in seinem Sitz. Er hatte Mühe, daran zu glauben, dass nichts von ihm verlangt wurde, außer ruhig sitzen zu bleiben. Kurz bevor sie auf dem Boden zu zerschellen drohten, fing Tiny die Maschine ab, und Jung erlebte verstärkt, was er schon nach dem Start erlebt hatte und lieber nicht noch einmal durchgemacht hätte.
Sie flogen jetzt geradeaus in 150 Feet Höhe über Grund. Jung spürte seinen Schweiß auf dem Rücken. Er erholte sich langsam. Die Geschwindigkeit nahm ihm den Atem. Aber er gewöhnte sich daran. Tiny schwieg und flog das Flugzeug wie einen Automaten auf Schienen. Das Terrain war leicht gewellt. Sie überflogen lichte Wälder aus Korkeichen und Ölbäumen. Die ein oder andere Fahrspur war am Boden auszumachen, auch einige wenige Trampelpfade. Es gab nur spärliche Anzeichen menschlicher Zivilisation, keine Straßen, keine Hochspannungsleitungen, Bauernhöfe, Silos oder andere Gebäude, die auf Landwirtschaft hätten schließen lassen. Eine Ziegenherde stob panisch auseinander, als sie über sie hinwegdonnerten. Einige einsame, klapprige Hütten schienen den Tieren und ihren Hütern einen Unterschlupf zu bieten. Der Detailreichtum dessen, was Jung sah, überwältigte ihn. Bei der horrenden Geschwindigkeit kam ihm das wie ein Wunder vor.
Jung erfasste Euphorie. War das der Geschwindigkeitsrausch oder der reine Sauerstoff, den er atmete? Er genoss jetzt den Flug und richtete sich darauf ein, das Schlimmste am Anfang hinter sich gelassen zu haben. Seine Euphorie dauerte nicht lange. Tiny verließ den Kurs, zog die Maschine hoch und stürzte sich gleich danach in ein Flusstal. Jungs Magen rebellierte. Tiny folgte dem Tal im Tiefflug. Er hatte die Geschwindigkeit gedrosselt. Und dennoch waren die Kräfte enorm, die in den sich unablässig aneinanderreihenden, engen Kurven an ihnen zerrten. Jung wurde schwindelig. Sein Herz raste. Der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Er nahm die Flusslandschaft nur schemenhaft wahr. Lange Zeit flogen sie unterhalb des Uferkammes. Eine erste Panikattacke erfasste Jung, als sie unter einer Hochspannungsleitung hindurchflogen, die sich über das Flusstal spannte. Was hatte den da vorn gepackt? Wollte er sie umbringen?
Tiny befreite Jung von seinen Ängsten. Das Tal weitete sich. Er flog in einer weichen Rechtskurve hinaus auf das Meer und gewann langsam Höhe. Jung atmete auf. Er hatte vorgehabt, sein Schweigen zu brechen. Jetzt gebot er sich Einhalt und gewann Zuversicht. Tiny steuerte auf einen Westkurs, die Küste entlang, und machte weiter Höhe.
»Jetzt kommt der schöne Teil«, meldete er sich. »Wir überfliegen gleich Carvoeiro.«
Jung schwieg und konzentrierte sich auf das, was er unter sich sah. Der Anblick war entrückend. Zur Linken das Meer, unter ihnen die Küste, Sandbänke, Lagunen, Felsen, Buchten und Strände. Alles lag sauber, geordnet und hübsch da, alle Hässlichkeiten und Fehler schienen niemals gemacht oder ausradiert worden zu sein.
Er erholte sich. Er spähte angestrengt nach unten. Tiny meldete sich bei der Luftraumüberwachung von Faro. Jung sah den Flughafen unter sich, aber keinen fetten Airliner in der Luft. Er freute sich, als er schließlich Carvoeiro identifizieren konnte und einen Blick auf sein Haus erhaschte.
»Da ist es.« Mehr sagte er nicht.
»Wink zum Abschied. Wir sind schnell«, erwiderte Tiny cool.
Jung sah auf die Anzeige: 400 Knoten. Er schwieg. Was sollte das heißen? Was wollte Tiny ihm sagen? Die Maschine drehte fast unmerklich nach rechts ab. Ihr Trip war jetzt zu einem Spazierflug geworden. Bald sah Jung voraus im Westen das Landende und weiter draußen die silbrige Unendlichkeit des Ozeans. Tiny legte das Flugzeug in eine weite Rechtskurve und schwenkte wenig später auf einen Nordkurs entlang der Küste ein.
Der Küstenstrich war wild, zerklüftet und – abgesehen von wenigen Dörfern und
Weitere Kostenlose Bücher