Tiefschlag
war nüchtern.
Er konnte kaum glauben, daß es dieselbe Frau war. Er sah Sam und Claude an.
Sam verriet nichts. Man konnte nie sagen, was Sam gerade dachte, wenn man ihn ansah. Mr. Unergründlich. Seine Gefühle, wenn er denn überhaupt welche hatte, schafften es nie bis auf sein Gesicht.
Claudes Gefühle andererseits standen ihm in Großbuchstaben quer übers Gesicht geschrieben. Wenn man Claude ansah, und sofern man nicht Marnies Zustand gesehen hatte, falls man nicht wußte, was er anschaute, dann würde man meinen, eine Märchenprinzessin wäre gerade in einer goldenen Kutsche vorgefahren. Er strahlte.
Geordie hatte schon davon gehört, daß Leute strahlten, aber dieses war das erste Mal, daß er es tatsächlich mit eigenen Augen sah. Da war er, Claude White, Besitzer eines Ladens für Secondhandmöbel, Besitzer des Micklegate Furniture Emporium, völlig sprachlos und strahlend. Falls es nur gespielt war, dann war’s auf jeden Fall ein absolutes Highlight.
Mitten in seiner Strahlerei wuchtete er sich auf die Füße und ging zu ihr. «Oh, meine Liebe», sagte er, legte einen Arm um sie und führte sie zu einem Stuhl neben seinem eigenen. Er senkte die Stimme, sprach allein zu ihr. «Du siehst wunderschön aus.»
Nein, dachte Geordie, sieht sie nicht. Sie sieht anders aus, Claude. Aber wunderschön ist nicht das richtige Wort. Dann erinnerte er sich wieder an die Sache mit der Relativität. «Okay», sagte er.
Alle sahen ihn erwartungsvoll an, und er lächelte. Er hatte überhaupt nichts sagen wollen. Er hatte in seinem Kopf okay gesagt, und irgendwie war ihm das Wort in den Mund gekommen. Er hatte es nicht in die Welt treiben lassen wollen. «Nichts», sagte er. «Ist schon in Ordnung.»
«Das ist Geordie», sagte Claude zu seiner Märchenprinzessin. «Und das da ist der andere, von dem ich dir schon erzählt habe. Mr. Turner.»
Sam streckte die Hand aus, und Marnie ergriff und schüttelte sie. Sie ließ Sams Hand nicht sofort wieder los, sondern sah ihm ins Gesicht.
«Ja», sagte sie mit einigen Schwierigkeiten... wegen der Zähne. «Sam Turner. Mein alter Saufkumpan. Wie geht’s denn so?»
«Gut», sagte Sam. «Seit ich’s aufgegeben habe. Ich hab versucht, mich umzubringen, das war’s.» Er nickte ihr zu, und es machte den Eindruck, als drückte er ihre Hand, bevor er sie losließ. «Wie geht’s dir denn so, Marnie?»
Sie lächelte und hätte um ein Haar den oberen Teil des Gebisses verloren. Sie schob es wieder zurück. «Ist mir schon schlechter gegangen», sagte sie. Sie sah zu Claude hinüber und streckte eine dürre Hand nach ihm aus. «Im Moment hab ich ein Hoch.»
«Ihr kennt euch», sagte Claude. Und dann lachte er über sich selbst. «Wie nicht zu übersehen ist.»
«Es gab einmal eine Zeit», sagte Sam ironisch, «als wir beide ein Problem mit dem Trinken hatten. In solchen Zeiten kennt man niemanden wirklich und lernt auch niemanden kennen. Man landet nur häufiger an den gleichen Stellen.»
Marnie nickte zustimmend. «Aber das ist die Vergangenheit», sagte sie etwas zu schnell. «Reden wir über heute.» Die Oberkieferprothese schob sich wieder vor, und Marnie nahm sie heraus und legte sie vor Claude auf den Tisch. «Die tun weh», sagte sie zu Claude. «Ist nicht die richtige Größe.» Abgedreht. Schlagartig verschwand die Oberlippe in ihrem Mund, als sei sie von einem atomgetriebenen Staubsauger aufgesaugt worden. Und ihr ganzes Gesicht machte eine totale Veränderung durch. Wenn man ein Foto hätte, auf dem sie mit der Oberkieferprothese zu sehen war, und man verglich es mit ihrem Aussehen, nachdem sie die falschen Zähne herausgenommen hatte, würde man sie nicht wiedererkennen.
Andererseits würde man jedoch das Oberkiefergebiß überall wiedererkennen. Wie es da jetzt auf Claudes Schreibtisch lag, sah es mehr nach Marnie aus als sie selbst.
«Die sind nur provisorisch», sagte Claude, nahm das Gebiß in die Hand, hielt es auf Augenhöhe und fixierte es scharf. «Wir werden zu einem Zahnarzt gehen, der dir eins anpaßt. Ich werde dir einen Termin machen.» Er legte die Zähne wieder auf den Schreibtisch und ließ sie dort liegen... Wache halten.
«Claude sagte, Sie hätten den Jungen gesehen», sagte Sam.
Schnell wandte sie sich ihm zu. «Er hatte Angst», sagte sie. «Wartete auf seine Mutter, und dann ist dieses Auto gekommen. Die haben ihn gesucht. Wir haben ihn in einen Hauseingang verstaut, und ich habe meinen Mantel über ihn gelegt, dann habe ich mich vor ihn
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