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Tiefschlag

Tiefschlag

Titel: Tiefschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Baker
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bringen und Aufblühen sehen konnte.
    Aber Jeanie wuchs nicht. Sie war verwirrt, sie wußte nicht, wem sie sich zuwenden sollte. Sam oder dem Iren. Er griff nach der Karaffe und schenkte ihr Wein nach. Lehnte sich zurück und trank einen Schluck Vichy-Wasser.
    «Hast du’s ihm schon gesagt?» fragte Sam. «Das mit mir.»
    Sie schüttelte den Kopf, und im Kerzenlicht schimmerte ihr langes schwarzes Haar, und die baumelnden Ohrringe blitzten auf. Sie trug eine schwarze Bluse mit einem kreisförmigen, schwarzen Lackverschluß am Hals. Als sie ihn anschaute, sah er das Bedauern hinter ihren Augen. Aber er ignorierte es, denn er könnte es nicht ertragen, damit zu leben.
    «Wir müssen das Band finden», sagte er. «Ein Videoband. Cal muß es irgendwo deponiert haben. Kannst du noch mal suchen?»
    Sie zuckte die Achseln. «Ich habe das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Außerdem haben sie, wer immer es nun war, das Haus in einen Saustall verwandelt, als sie eingebrochen sind. Also habe ich alles aufgeräumt. Und anschließend habe ich noch mal gesucht, ich habe überall nachgesehen, Sam. Falls dort ein Videoband war, hätte ich es auch gefunden.»
    «Was ist mit Karens Zimmer? Als Cal das letzte Mal zu Besuch war, ist er doch zu ihr raufgegangen.»
    «Sie hätte es gefunden.»
    «Sie ist elf Jahre alt, Jeanie. Du willst mir doch wohl nicht erzählen, daß sie weiß, wo sich in ihrem Zimmer alles befindet?»
    Jeanie schüttelte den Kopf. «Sie weiß nicht, wo alles ist, aber es ist ein ziemlich kleines Zimmer.»
    «Okay», sagte Sam. «Wahrscheinlich hast du recht. Ich bitte dich ja auch nur, dort einmal nachzusehen.»
    «Ich werd’s direkt morgen machen. Ich werde die Bude auseinandernehmen.»
    Er verspürte das drängende Bedürfnis, die Hand auszustrecken und ihr Gesicht zu berühren, aber er tat es nicht. Wenn aus einem Ballon erst einmal die Luft raus ist, hat es keinen Sinn, sich noch länger etwas anderes vorzumachen.
     

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
     
    W ährend ihrer Zeit als Krankenschwester hatte Marie immer gedacht, bereits alle Schichten der britischen Gesellschaft gesehen zu haben. Auf einer Krebsstation wurde es zunehmend schwieriger, den Unterschied zwischen einem Steuerberater und einem Taxifahrer auszumachen. In der Horizontalen, blaß und krank, mit Scheiße, die aus beiden Enden kam, sahen alle ziemlich gleich aus.
    Später begriff sie, daß sie den wirklich Reichen nie begegnet war. Es lag nicht etwa daran, daß die sehr Reichen nicht krank wurden und starben wie andere. Das wurden sie, das taten sie. Allerdings schienen sie nur äußerst selten auf einer Kassenstation zu landen. Sie erhielten persönliche Pflege und Aufmerksamkeit bis zum Ende in den privaten Kliniken, die ausschließlich und allein für sie gebaut wurden.
    Nachdem sie den Sozialberuf aufgegeben und als Privatdetektiv bei Sam angefangen hatte, entdeckte sie weitere Gesellschaftsschichten, besonders den Bauch, die Überbleibsel der Thatcher-Revolution. Diejenigen, die aus der «Scheiß auf den Nachbarn »-Mentalität Kapital schlugen und prächtig gediehen. Die kriminellen Klassen, von denen nicht wenige, im Rahmen der Gesetze operieren durften. Aber auch diejenigen, die einfach nur Opfer waren, die aus dem System gedrängt und aller Rechte oder staatsbürgerlichen Privilegien beraubt wurden. Die Behinderten, die Geisteskranken, die Alten.
    Bereits seit geraumer Zeit hatte sie nun geglaubt, daß die unterste Schicht des Haufens von den Verkäufern der Obdachlosenzeitungen an der Coney Street oder vor der Buchhandlung Waterstone’s repräsentiert wurde. Es waren die Obdachlosen, die sich einen kärglichen Lebensunterhalt mit den Pennys von Passanten und Touristen verdienten.
    Aber der Junge, mit dem sie jetzt in einem vom Colliergate abzweigenden Gäßchen saß, gehörte einer Klasse weit unterhalb der Straßenhändler des Big Issue an.
    Pete war neunzehn Jahre alt und völlig unterernährt. Seine Statur entsprach eher der eines Zwölf- oder Dreizehnjährigen: schmale Schultern, verängstigte, vorstehende Augen. Marie kehrte immer wieder zu diesen Augen und den Tiefen zurück, die sie verbargen. Tiefen des Mißbrauchs? Der Verderbtheit? Ja, und mehr. Selbst die Tiefen einer alten Weisheit, eines Wissens, das weder einen Platz noch eine Funktion in den Jahren unmittelbar vor der Jahrtausendwende hatte.
    Er saß auf den Überresten einer Boulevardzeitung, hatte beide Beine vor sich ausgestreckt. Er trug abgewetzte Turnschuhe, und seine

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