Tiefschlag
gestellt.» Sie schaute zu Geordie hinüber, sah dann wieder Sam an. «Er war noch ein Kind. Jünger als der da.» Ihr Blick zuckte zurück zu Geordie. «Ein schwarzer Junge namens Andrew. Mein Vater hieß auch Andrew.»
Jesus, dachte Geordie. Ihr Vater. Niemals hätte er sich vorgestellt, daß sie einen Vater hatte oder Eltern. Auch nicht eine Sekunde stellte er sie sich als Kind vor.
Dann war sie einige Minuten gedankenverloren. Sie starrte zu den Dachsparren auf, und ein leises Stöhnen löste sich aus ihrem Mund.
«Jesus», sagte Claude und stand auf. «So was passiert.» Er stellte sich hinter ihren Stuhl und nahm ihren Kopf in beide Hände. Zärtlich stützte er ihn ab, als befürchte er, der Kopf könne womöglich runterfallen. Das Stöhnen veränderte langsam die Tonlage, wurde zu einem lauten Jammern. Claude bewegte sich und warf Sam einen hilfesuchenden Blick zu. Sam rührte sich nicht, sein Blick verließ die alte Frau keine Sekunde.
Sie heulte inzwischen wie bei einem Klagelied, dachte Geordie. Um die Toten? Ihren Vater? Jene Aspekte von ihr, ihre Jugend und Schönheit, ihre Vergangenheit, die für immer verloren waren? Oder vielleicht um etwas anderes, etwas, das sie nicht einmal selbst benennen konnte. Etwas, das die ganze Welt vergessen hatte.
Der Laut verstummte mit einem Zucken. Sie schnappte nach Luft und schaute sich um. Zögernd ließ Claude ihren Kopflos. Er nahm die Hände fort, ließ sie aber dort schweben, nur ein paar Zentimeter entfernt. Als ihr Kopf nicht runterfiel, trat er einen Schritt zurück und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.
Marnie tätschelte ihm die Hand. Dann nahm sie den Faden der Geschichte genau an der Stelle wieder auf, wo sie ihn fallen lassen hatte. «Der Bursche hatte schreckliche Angst. Dieser Andrew. Ich ließ ihn in dem Hauseingang zurück. Er zitterte, aber er lag schließlich unter meinem Mantel, also dachte ich, er wäre in Sicherheit. Ich wollte den Verkehr anhalten, einen Verkehrsstau verursachen, damit die zwei in dem Auto nicht wieder vorbeikommen konnten. Damit hätte der Junge eine Chance gehabt zu verschwinden. Zumindest hätte es ihm einen guten Vorsprung verschafft. Seine Mutter war unterwegs.
Ich hockte mich also auf die Straße. Zuerst hat’s dann auch funktioniert. Die haben alle gehupt wie die Irren. Aber irgendwer muß wohl die Bullen gerufen haben, denn die tauchten dann auf und schleiften mich weg. Ich hab denen gesagt, was ich mache. Ich hab’s dem ersten gesagt, aber der wollte nicht zuhören, und er ist dann zu seinem Auto zurück und hat eine Bullin gerufen. Und dann hab ich’s der noch mal gesagt, aber sie hat mich nur hinten in den Transporter geschubst. Ich hab’s denen sogar auf dem Polizeirevier noch mal gesagt.
Na, ja, und als nächstes sehe ich dann das Foto von dem Burschen in der Abendzeitung. In Brownie Dyke ertrunken.»
«Die beiden Typen in dem Auto», sagte Sam, «hast du die auch gesehen? Kannst du sie uns beschreiben?»
«Große Jungs», sagte Marnie. «Ziemlich starke Männer. Als ich noch Kind war, wären die im Zirkus aufgetreten und hätten Stahlstangen verbogen. Ich hab mal zwei von denen gesehen, wie sie einen Traktor hochgehoben haben. Ausgesprochen dumm, so was zu tun.»
Claudes Holzofen bollerte volles Rohr. Geordie spürte, daß ihm ein kleiner Bach den Rücken hinunterlief, und er sah zu Sam hinüber, der sich gerade einen Schweißfilm von der Stirn wischte. Claude und Marnie jedoch schien es überhaupt nichts auszumachen. Sam stand auf und sagte, sie seien eine große Hilfe gewesen. Besonders Marnie.
Sie traten gerade noch rechtzeitig auf die Straße, bevor Geordies Blut zu kochen anfing. Der Schweiß auf Stirn und Nacken erstarrte zu Eis.
Auf dem Rückweg ins Büro sagte Sam: «Damit ist der Fall dann erledigt. Wir dachten, wir hätten zwei Fälle, aber tatsächlich haben wir nur einen.»
«Glaubst du, die Muskelmänner wären für alle Morde verantwortlich?» fragte Geordie.
«Sieht ganz danach aus. Aber der Kerl, der die Befehle gegeben hat, nennt sich Franco Tampon.»
Sie war wunderschön. Das war das eigentlich Traurige. Sam hatte sich nicht besonders angestrengt, daß sie sich in ihn verliebte. Er hatte sie von Anfang an gemocht, vom ersten Augenblick, als er sie sah. Aber er hatte sie nicht bedrängt. Er hatte es langsam machen, einfach abwarten wollen, was sich ergab. Abwarten, ob da etwas dran war, ein Funken vielleicht, den er hegen und pflegen konnte. Etwas, das er zum Wachsen
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