Tiefschlag
gerade deinen Kaffee trinkst?»
Geordie schüttelte den Kopf. Man hätte gedacht, Sam würde schneller kapieren. Andererseits aber, so war Sam eben. Wenn ihm danach war, schwer von Begriff zu sein, dann konnte man nichts dran ändern. «Weil alles so alt ist, natürlich. Ich meine, diese Straße, Micklegate, wie alt ist die?»
«Ich geb’s auf», sagte Sam. «Wie alt ist sie?»
«Tausend Jahre», sagte Geordie. «Mindestens tausend Jahre. Könnte sogar noch älter sein. Wann waren die Römer hier?»
«Vor Christi Geburt», sagte Sam. «Mindestens.»
«Siehst du, was ich meine? Man geht über eine Straße, auf der wahrscheinlich sogar schon die Scheißrömer gelatscht sind. Die haben doch einfach so zum Spaß Angelsachsen abgemurkst. Nach ihnen sind dann diese anderen Typen gekommen, die Normannen, und die haben auch Leute umgebracht. Und das geht jetzt schon seit vor Christi Geburt so. Also, wenn es tausend Jahre lang einen Mord, sagen wir mal, einen Mord pro Jahr gegeben hat, wie viele Morde macht das dann?»
«Zweihundertdreiundvierzig», sagte Sam.
«Genau. Und wahrscheinlich gab’s mehr als nur einen pro Jahr. Verdammt, wir ermitteln im Moment in drei Mordfällen.»
«Oh, du hast das nicht vergessen», sagte Sam. «Ich meine, warum wir hier sind.»
«Natürlich habe ich’s nicht vergessen», sagte Geordie. «Was denkst du, ich hätte mein Gedächtnis verloren, oder was?»
«Nein. Ich dachte, wir hätten hier so was wie eine Geschichtsstunde. Wie in der Schule oder so. Die Geschichte Yorks von den Römern bis zur Gegenwart im Schnelldurchgang.»
«Du bist hart wie ein Grabstein, Sam.»
«Aber jeder Zoll ein Gentleman.»
«Du hast immer eine Antwort parat, aber du bist auch wie ein Strauß.»
«O Gott, man hat mich durchschaut.»
«Siehst du, was ich meine?» sagte Geordie. «Du kannst es nicht ertragen, wenn jemand anderer mal das letzte Wort hat.»
Sam antwortete nicht. Ein paar Minuten gingen sie schweigend nebeneinander weiter, vorbei an der Gegend, in der sie eigentlich arbeiten sollten. Sam blieb vor einem Café stehen. «Ich spendier dir einen Kaffee», sagte er. «Als Buße dafür, daß ich so ein ausgemachter Bastard bin.»
«Erzähl mir davon», sagte Geordie. «Es ist dein Geld.»
Sam öffnete die Tür des Cafés und trat zur Seite, um Geordie vor sich in das warme und wohlriechende Innere treten zu lassen.
Es gab schon immer diese andere Seite von Sam. Geordie lernte, sich davor in acht zu nehmen. Aber es war nicht leicht, denn es kam zu den merkwürdigsten Zeiten. Immer genau dann, wenn man überhaupt nicht damit rechnete. Sechs Tage die Woche lief er auf Kiel. (Auf Kiel laufen! Sieh sich einer das an, da hatte sich aber mal ein beschissen tolles Klischee eingeschlichen. Hätte er das in einem seiner Aufsätze geschrieben, dann hätte Celia es rot eingekringelt. Auf Kiel laufen! Was in aller Welt bedeutet das denn? Geordie wußte, daß es irgendwas mit Schiffen zu tun hatte, und er wußte, warum man es im Englischen nicht benutzte. Es war banal. Und das war mal ein Superwort: banal.)
Jedenfalls, wie auch immer, er lief auf Kiel, und dann, am siebenten Tag, war er voll der Brummige. Gemein. Gemein und eklig. Und wenn man ihn darauf aufmerksam machte, würde er wahrscheinlich noch gemeiner und ekliger, weil man ihn kritisiert hatte. Laufen sollte es so, daß Sam gemein und eklig zu einem war, und man steckte es einfach weg.
Und manchmal hatte Geordie das gemacht. Es einfach weggesteckt. Denn die restliche Zeit war Sam gut zu ihm. Wenn er aber dazu kam, darüber nachzudenken, dachte er, warum sollte er eigentlich? Es einfach wegstecken, heißt das. Und ihm fiel auch nicht ein einziger guter Grund ein, also hatte er damit aufgehört. Wenn Sam jetzt gemein wurde, sagte Geordie ihm einfach, daß er gemein war.
Scheiße, wenn Geordie gemein wurde, dann war Sam doch der erste, der mit dem Finger drauf zeigte. Und wenn Sam bei Geordie auf schlechte Sachen aufmerksam machte, so hatte er ihm zum Beispiel gesagt, daß man sich die Füße wusch, dann lernte Geordie das auch. Schließlich hatte er gelernt, sich die Füße zu waschen, bevor sie zu stinken begannen. Bei dieser Gelegenheit, dieser Lektion von wegen den Füßen, lernte er außerdem, jeden Tag die Socken zu wechseln, auch wenn Sam das nicht ausdrücklich erwähnt hatte. Siehste? Darauf war Geordie ganz von allein gekommen, auf die Sache mit den Socken, denn wenn man täglich die Socken wechselte, blieben die Füße auch
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