Tiefschlag
ich?»
«Nichts», sagte Geordie. «Absolut nichts, stimmt’s?»
Sam schob den Stuhl zurück und stand auf. «Warum mußt du eigentlich bei jedem Satz ein nachschieben? Das nervt.»
«O Gott», stöhnte Geordie. «Er reagiert genervt. Hat wahrscheinlich seine Tage!»
Celia war bereits im Büro, als Sam eintraf. Sie war neunundsechzig und hatte erst kürzlich ihre große Leidenschaft für osteuropäischen Schmuck entdeckt. An diesem Morgen trug sie einen gigantischen Silberring, der fast ihre ganze Hand verdeckte. «Guten Morgen, Sam», sagte sie. «Ich habe die Post bereits geöffnet. Liegt auf Ihrem Schreibtisch.»
«Irgendwas Interessantes dabei?»
«Eigentlich nicht, nein. Ein paar Schecks.» Sie trat ans Fenster und schaute auf den St. Helen’s Square hinaus. «Es heitert sich ein bißchen auf. Habe schon nicht mehr damit gerechnet, daß Sie noch reinkommen.»
«Tut mir leid», sagte Sam und ging die Post auf seinem Schreibtisch durch. «Geordie hat mich aufgehalten. Mußte ihm die Menstruation erklären.»
«Ach du meine Güte», sagte Celia, die immer wieder aufs neue von Sams Offenheit verblüfft wurde. «Wie in aller Welt haben Sie ihm das denn erklärt? Ich hab’s mir selbst ja nie zufriedenstellend erklären können.»
«Es war keine philosophische Diskussion, Celia. Es ging nur um die nackten Fakten.»
«Selbst dann», sagte sie. «Manchmal denke ich, es wäre nett, noch einmal jung zu sein. Aber wenn ich an solche Dinge zurückdenke, bin ich doch recht glücklich und zufrieden mit dem, was ich heute habe.»
«Ja», sagte Sam. «Die Vergangenheit sieht im Rückblick immer besser aus, als sie tatsächlich war. Angenehm und erfreulich ist sie nur, weil sie nicht Gegenwart ist. Wie auch immer, Sie sind nicht alt, Celia. Jede Wette werde ich verdammt viel älter sein als sie, wenn ich erst mal Ihr Alter erreicht habe.»
Celia drehte sich vom Fenster um und schenkte ihm eines der faltigsten Lächeln des Universums. «Ach ja... Marie hat angerufen», sagte sie. «Sie fühlt sich noch nicht gut genug, wieder zur Arbeit zu kommen.»
«Geordie hat heute frei», antwortete Sam. «Bleiben also nur wir beide. Und praktisch nichts in der Post. Vielleicht sollten wir für heute auch die Jalousien runterlassen?»
Celia zuckte die Achseln. «Gehen Sie nur, falls Sie noch irgendwas zu erledigen haben. Ich würde gern noch die Bücher in Ordnung bringen. Kein Problem, einen Tag allein die Stellung zu halten.»
«Marie macht mir Sorgen», sagte Sam. «Was hat sie Ihrer Meinung nach? Irgendeinen Bazillus?»
«Nein, es sitzt tiefer, Sam. Früher nannten wir so was Seelenleiden. Aber sie hat eine Menge Mumm. Ich bin sicher, sie wird es überstehen.»
Sam seufzte und legte die Post wieder ordentlich hin, so daß sie in etwa so lag wie bei seiner Ankunft. «Ich denke, ich werde mal vorbeifahren und sie besuchen», sagte er.
Er verließ das Büro, ging am Postamt an der Lendal Street vorbei und überquerte die Straße zum Museum Gardens. Er okkupierte eine Bank und saß fast bewegungslos da, beobachtete ein Eichhörnchen, das über das Gras auf ihn zugetrippelt kam. Sie waren die hier überall herumtrampelnden Touristenhorden so gewöhnt, daß sie kaum noch Scheu vor Menschen hatten. Dieses Eichhörnchen hüpfte nun über den Weg und leistete Sam auf seiner Bank Gesellschaft. «Ich hab nichts für dich», sagte Sam, und das Eichhörnchen legte den Kopf schief und beobachtete die Hände des Mannes, als wollte es sagen: «Ich auch nicht.» Sie hatten nur sich.
Marie Dickens war die Witwe von Sams Ex-Partner Gus, der vor einigen Monaten bei einem Auftrag getötet worden war. Nach Gus’ Tod hatte Marie ihren Job als Krankenschwester gekündigt und bei Sam Turner Ermittlungen angefangen. Sie hatte sich mit viel Energie und Willen in die Arbeit gestürzt, aber die letzten Wochen war sie verschlossen und still gewesen. Vor ungefähr zehn Tagen hatte sie sich krank gemeldet. Sam glaubte schon, daß irgendwas nicht in Ordnung war, aber bestimmt nicht wegen irgendwelcher Bazillen.
Sam erhob sich von der Bank, und das Eichhörnchen flitzte einen Baum hinauf. Er durchquerte den Park und ging dann an der Ouse entlang zu Maries Haus.
Er klopfte an und trat ein. Sie saß mit einer Tüte Salznüsse am Fenster. Auf dem Tisch vor ihr lagen mehrere Schokoriegel.
Gus hatte immer gesagt, daß kein Schokoriegel sicher sei, wenn Marie in der Stadt war.
Sie war eine große, kräftige Frau von Anfang
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